644
Viertes Buch.
Abtheilung.
fchauung. So, als gleichberechtigt, hat auch Raphael f1e auf diefem Bilde
dargestellt. Neben einander stehen sie in der Mitte des Mittelgrundes und im
höchsten Theile einer nach vorn abgestuften prachtigen HochrenaiffancesHalle;
Plato weilt mit erhobener Rechten gen Himmel, Aristoteles deutet mit auss
gestreckter Hand auf den festen Boden, in dem wir wurzeln. Eine senkrechte
Linie zwischen beiden wiirde das ganze Bild in zwei fcharf unterschiedene
Hälften theilen; und auf jeder Seite sind denn auch die Vorgänger und Ans
hänger jedes der beiden gr0fsen Denker in deutlicher Sonderung gruppirt,
f1ebenundzwanzig huben und f1ebenundzwanzig drüben, in den verfchiedensten
Stellungen und Thätigkeiten. Die Einzelgruppen, welche der grossartigen
Architektur in anmuthigfter Linienfchönheit eingefügt find, find noch freier,
noch lebendiger, noch geistvoller als diejenigen der Disputä; ihre Zusan1mens
fügung zur Gesammtkompof1tion ist nicht minder streng und harmonifch; die
einzelnen Charaktere sind ebenfo individuell durchgebildet und ebenf0 schön;
auf der Seite des Aristoteles hat Raphael sich selbst in Begleitung feines Vors
gängers S0doma Cnicht feines Lehrers PeruginoJ1J dargestellt. Einzelstudien
zu dem Bilde haben sich in verfchiedenen Sammlungen, der herrliche Karton
zum Ganzen hat f1ch in der Ambrosiana zu Mailand erhalten.
3. Die Jurisprudenz. Die vJustitiaa mit Waage und Schwert im Deckens
D:EriZi7Jcj;ccfäsrundbild zeichnet sich weniger durch ihre Haltung, als durch die keufche
zwic1Zc.:fbH;z Strenge ihres Blickes aus. Das historische Zwickelbild bringt das Urtheil
Salomo7s in ebenfo schlichter und schöner wie sprechend lebendiger Komp0s
Diewak1d. siti0n zur Anfchauung. Für die Hauptdarstellung stand an diefer Wand, die
bildet. durch das Fenster in zwei ungleiche Hälften getheilt wird, kein fo gefchlossenes
Halbrund zur Verfügung, wie an den beiden bereits besprochenen VVänden.
Raphael wusste sich zu helfen. Mit kühnem Entfchlufse stellte er drei Bilder
statt eines dar. Auf dem schmaleren Höhenbilde links vom Fenster sehen wir,
wie Kaifer Justinian im Purpurmantel und mit dem Lorbeerkranze dem Tres
bonianos feine Pandekten übergiebt, auf dem breiteren gegenübergelegenen,
wie Gregor IX., der die Züge Julius7 II. trägt, umgeben von feinen Kardinälen,
in deren kernigen Köpfen Raphael eine Reihe von Zeitgenossen porträtirt hat,
die Dekretalien ausgiebt. Es sind zwei Ceremonienbilder, welche als Muster
ihrer Gattung gelten können. Im Halbrund über dem Fenster aber hat
Raphael die drei Kardinaltugenden, welche der Rechtfprechung vor allem noth
thun, die Weisheit, die Mäfsigung und die Festigkeit in drei anmuthig gruppirs
ten weiblichen Gestalten verkörpert.
Dis Poefie. 4. Die Poefie. Die Gestalt an der Decke ist die schönste von allen, eine
DE k;ekk;,1k von göttlicl1er Begeisterung verklärte gesiügelte Idealgestalt, die Raphaels eigens
JFZf11f,.J,Js stem Innern entsprungen ist. Das Zwischenbild stellt den Sieg Apollon,s, des
z,,jZZ1Jen.Sangesgottes, über Marsyas, den Flötenbläfer, mit drastifcher Lebhaftigkeit
Ums dar. ln7s grosse Halbrund der Wand ragt auch hier ein Fenster hinein; und
Da; Raphael half sich hier in noch genialerer VVeise als drüben; er blieb bei einer
DYxaFTEÄ1Zr;. einzigen Darstellung und machte den unregelmäfsigen Raum feinem Zwecke
dienstbar, indem er oben über dem Fenster die Hohe des Parnaffes darste1lte,
auf defsen Gipfel unter Lorbeerbäumen Apollon, von den neun Musen ums
l.cs27m7ZfeK.
Die Werke