Volltext: Die Malerei der Renaissance (Bd. 2)

Raphae1.1J 
Wie die Griechen und Römer den Namen des Apelles ausfprachen, wenn 
sie die höchste Vollendung auf dem Gebiete der Malerei bezeichnen wollten, 
so hat die Neuzeit seit fast vierhundert Jahren in der Regel JZx:PJzzZeZ genannt, 
wenn sie den Inbegriff aller höchsten künst1erifchen Eigenschaft in ein einziges 
Wort Zusammenfassen wollte. Nun zieht die historische Betrac:htungsweise der 
Gegenwart es allerdings vor, jedem, der sich innerhalb der Auffassung und 
der Technik feiner Zeit und feines Volkes ausgezeichnet hat, die Palme zu 
reichen, und wir wundern uns daher nicht, dass es Kenner und Liebhaber 
giebt, denen andere Meister sympathifcher sind, als der grosse Urbinate. Aber, 
objektiv betrachtet, wird es doch wohl wahr bleiben, dass Raphael in feinen 
reifsten VVerken dem absolut VVahren und dem absolut Schönen so nahe 
gekommen ist, wie kaum ein zweiter Maler. 2J Vor Raphael7s besten VVerken 
vergessen wir den Meister und das Modell, vergessen wir die Formens und 
Farbengesetze, welche diesen Einklang von VVahrheit und Schönheit hervors 
gebracht haben. Sie wirken auf uns wie organifche Gebilde einer höheren, 
reineren Welt, und sie überzeugen uns, als könnten sie gar nicht anders sein 
und seien uns seit unserer Kindheit bekannt. Indessen ist die Zahl der VVerke 
des fruchtbaren Meisters, die auf dieser höchsten Höhe allseitiger Vollendung 
stehen, überrafchend klein; und es ist äusserst lehrreich, die stufenweife Ents 
wicklung feines Stiles bis zu dieser Höhe zu verfolgen. Raphael war kein 
subjektives und eigenwilliges Genie, wie Michelangelo; er war von Haus aus 
sogar mit verhältnifsmässig geringer Selbständigkeit begabt; er nahm mit selbsts 
loser Hingabe die Einflüfse, die ihm nach einander in den VVeg kamen, in sich 
auf. Aber eine Reihe anderer Eigenschaften gaben ihm die Kraft, alle diese 
EinHusse selbständig zu verarbeiten: ein unbedingter Respekt vor der Natur, 
der ihn von jeher die forgsamsten Studien nach dem Modelle machen liess, 
ein angeborenes Schönheitsgefühl, wie es seit Phidias wohl keinem Sterblichen 
zu Theil geworden war, ein eiserner Fleiss, mit dem er sich die intimsten theos 
retischen Kenntnifse und technischen Fertigkeiten aneignete, endlich eine Kraft 
geistiger Erfassung und Verarbeitung der ihm gestellten kiinstlerifchen Probleme, 
wie sie nur wenige Meister aller Zeiten besessen haben. Diese Eigenschaften 
ermöglichten es ihm, die verschiedenen Richtungen, welche nach einander auf 
ihn einwirkten, jedesmal zu einer höheren und reineren Entfaltung ihrer Eigenart 
II PimJ2i.v 7n7Ji2;1: Rap11ae1is Urbinatis Vita Cvg1. oben S. 541, Anm. 2I.  1JaJaJ7Is Vite, 
ed. JWZemeI, IV, p. 3Ils4l6.  Von der keic11haltigen späteren Literatur kann hier nur das mass 
gehende genannt werden: L. .P7,mgiZez272i: E1ogio storico di Raffae110 santi, Urbino I829.  C. F. 
V. Jc2cmi2Jzr.s 1ta1ienifche Forfchungen, III CBer1in und Stettin I83lJ, S. lgI54.   D. PzzI227Jm2Z: 
RaphaeI v011 Utbil1O und fein Vater Giovanni santi. 3 Bde., Leipzig 1839.18s8. FranZö1ifche AnSs 
gabe von P. J.zzcmi,sc Cnach we1e11er auch ich citireI, 2 Bde., Paris l860.  C. ccmzzJwsf.s N0tizie 
inedite di Raffae110 di Urbin0, Modena 1863.  C. lZAZm2zi.s The works of Raphael as repreSented etc. 
at Windf0r Cast1e, London 1876.  Ä. Fp773s;geJs.s Rakfael und Michelangelo, Leipzig 1878. Neue 
Anklage in V0rbereitung.s IJ1J.L27äXIse.I Rafae1s Leben nnd Werke, Textbuch zu .4zZ. G7siziesLs Rafae1i 
werk, Dresden 1881.  E:ig. JkJz772fz: Rap11ael, sa vie, Son 0euvre et son temps, Paris 1881. 
2J Einen intereffanten Ueberb1ic1c über die Gefc11ic11te der Werthfchätzung Raphae1s giebt JJemz. 
Csi2;z22z in der Einleitung feines C1.mvo11endetenJ Lebens Rap11ae1s von Urbin0, Berlin I872.
	        
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