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Buch.
Viertes
Abtheilu11g.
Verdammten zu feiner Linken abzuweisen: es ist eine aller Ueberlieferung
spottende, jugendlich bartlose Gestalt von herkulischem Körperbau, wie nur
Michelangelo sie darstellen durfte. Zitternd schmiegt Maria sich an Christi rechte
Seite. Die Apostel und Heiligen rings im Kreise fahren auf; aller Augen
hängen mit dem Ausdruck höchster Spannung am Antlitz des VVeltrichters
CFig. 345J. Die Märtyrer brüsten sich mit den Zeichen und VVerlczeugen der
Qualen, die sie erduldet; von oben her Cdie beiden Halbkrei5abschlüsse füllendJ
schleppen Engeljünglinge in stürmischem AnHug Christi Kreuz uiid Schands
pfahl, feine Geissel und feinen Dornenkranz herbei. Unter der Himmelsgruppe
schweben die sieben pofaunenblasenden Engel, welche mit einer Hingabe, die
sich nicht nur in den vollen Backen, sondern auch in allen Bewegungen ihrer
kräftigen, jugendschönen Körper ausspricht, ihres Amtes warten. Zu ihrer und
des Heilandes Rechten steigen die Seligen langsam gen Himmel, Gestalten
voll Adel mit Gesichtern voll Frieden, einander liebend emp0rziehend, während
gegenüber die Verdammten von den Engeln hinabgestofsen, von den Teufeln
hinuntergezerrt werden in den Schlund der Nacht: wild durcheinanderstürzende
Leiber, angstentstellte Zügel Im unteren Theile des Bildes endlich sieht
man links die Todten als Gerippe ihren Gräbern entsteigen, erst mit Haut.
dann mit dem neuen Fleische bekleidet werden und lich staunend von der
Erde loslösen. In der Mitte treibt der Todtensährmann Charon die Vers
dammten, welche fein Nachen geladen hatte, mit dem Ruder an7s Gestade
des Schreckens, welches ganz zur Rechten des Beschauers angedeutet ist.
Flammen züngeln hier empor, Teufel mit Harpyienflügeln und Satyrohren
treiben hier ihr VVesen, und kalt, fchadenfroh lächelnd, den feisten Leib von
einer Schlange umwunden, heisst Minos, der Fürst der Unterwelt, hier die Gäste
der Hölle willkommen.
De,3,;1deS In dieser gewaltigen, mit mehreren hundert Köpfen ausgestatteten Koms
zYsJF,lI:.EJ ipos1ti0n trieb Michelangelo seine Eigenart auf die Spitze. Von einer malerischs
farbigen Beherrschung der ganzen Fläche ist keine Rede. Wohl sind die
einzelnen grossen Gruppen mit bewundernswerther Klarheit und übersichtlicher
Symmetrie zusammengefasst; aber keine Uebergänge verbinden sie zu einem
unauslöslichen Ganzen; schliesslich will doch jede Einzelgruppe undjede Einzels
gestalt für sich genossen sein, als wären es plastische Werke. Am bcwundernss
werthesten sind die mittleren und unteren Gruppen. Hier im freien Lustraum,
der den Bewegungen keine Grenzen setzte, zeigen die prächtigen Leiber sicli
von allen Seiten und in allen, in VVirklichkeit nie vorgekommenen, aber denlcs
baren und möglichen Stellungen und Bewegungsmotiven. Das kühnste war,
dass Michelangelo es wagte, das ganze Drama des jüngsten Gerichtes unter
fast oder völlig unbekleideten Gestalten sich abspielen zu lassen, ja, das Mass
der ewigen Seligkeit durch die erhöhte Kraft der Muskelbildung anzudeuten.
Es ist begreiflich, dass dieses Unternehmen bald heftige Angrisse erfuhr; es ist
fast noch ein Wunder, dass Paul IV., der Mann der Gegenref0rmation, sich
schliesslich begnügte, durch Michelangelo7s Schüler Daniele da Volterra die
schlimmsten Blössen des unter seinem Vorgänger gemalten Werkes mit Kleis
DeH.M,ge dungsstücken ziimalen zu lassen. Spätere Ueberma1ungen und der Rauch der
ZUgZj;JsJlss Kerzen und des VVeihrauchs vollendeten die Ueberzieliung des ganzen WVerkes
mit fremder Hülle. Es ist gegenwärtig nur noch ein Schatten dessen, was es