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V iertes Buch.
Abtheilung.
zählt, kommt es ihm erst in zweiter Linie an; in erster Linie ist es ihm stets
um die unverhüllte Form des menschlichen Körpers und ihre Bewegungss
fähigkeit zu thun. Er bedarf keiner leblosen Ornamentik und keiner vis1onären
Farbe. Die menschliche Gestalt genügt ihm, um alles auszudrücken, was er
will. Er benutzt sie als Ornament, wenn es ihm passt; er stellt sie statt der
Bäume in den Hintergrund, wenn es ihm einfällt; aber er versteht es auch,
durch sie und nur durch sie die höchsten geistigen Probleme zu lösen. Durch
ein so eingehendes Studium der Anatomie, wie es vor ihm und vielleicht auch
nach ihm kein Künst1ersgetrieben, hatte er sich die gründlichste Kenntniss des
menschlichen Körpers verschafft; und er benutzte, besonders in der zweiten
Hälfte feines Lebens, diese Kenntniss, um die Muskeln feiner Leiber mit sous
veräner Freiheit nach den Eingebungen feiner Phantasie in Thätigkeit zu
setzen und dadurch neue, eigenartige Bewegungsmotive zu schaffen, welche in
der prachtvollen gegensätzlichen Vertheilung der Gliedmassen bis an die
äusserste Grenze des anatomisch und mechanisch möglichen, niemals aber, wie
ein bedeutender Anatom nachgewiesen hat, O über dieselbe hinausgehen. Es
sind Bewegungsmotive und Stellungen, wie sie nur bei Zuständen völligen
Selbstvergessens oder völligen Aufgehens in grosse Gedanken möglich sind,
Formen und Bewegungen, auf welche die alten Griechen, welche nur die
lebendig bewegten Leiber studirt hatten, nie gekommen wären; eben deshalb
aber dienen sie Michelangelo auch, um ganz neue, spezifisch moderne geistige
Stimmungen auszudrücken; eben deshalb offenbart er sich gerade in ihnen als
SubjI,JsZ,Ität. der originelle, subjektive, ja willkürliche Meister, welcher, genau genommen,
ausserhalb jedes Schulzusammenhanges steht und stets er selbst und, wenn feine
Eigenheiten auch mit den Jahren zunehmen, nur er selbst ist. Aber feine
Originalität ist stets auf7s Ergreifende und Mächtige, seine Subjelctivität auf7s
Reine und Hohe, seine VVillkür auf7s Ernste und Erhabene gerichtet. Daher
packte er seine Zeitgenossen mit unwiderstehlicher Gewalt; und daher erscheint
er uns heute noch so neu, gross und eigenartig, als wären wir selbst die Zeugen
seiner Entwicklung gewesen.
sr3si; Michelangelo gehörte bekanntlich, wie Leonardo, zu den vie1seitigen grossen
Renaissancemeistern; doch beschränkte seine Vielseitigkeit sich auf die Kunst.
Er war sogar eine etwas einseitige Künstlernatur; als Künstler aber beherrschte
TEOYFY;;YgFZ er die Architektur, die Bildhauerei, die Malerei und die Dichtkunst. Was er
als Architekt geleistet, zeigt die Kuppel der Peterskirche in unvergänglicher
sFaHds Schönheit. Was er der WVelt als Bildhauer gewesen, das bezeugen sowohl die
noch ziemlich schlicht im Anschluss an die Horentinischen Meister des I5.J3hk.
hunderts geschaffenen Werke seiner Frühzeit, wie die Marmormadonna in
Brügge, die Pietä in der Peterskirche zu Rom, der David in der Akademie
von Florenz, als auch die subjektivseigenartigen Schöpfungen seiner späteren
Tage, wie die vollendeten Stücke des Grabma1s Julius II, z. B. der gewaltige
Moses in S. Pietro in Vincoli zu Rom, und vor allen. Dingen die Mediceers
gräber in der Sakristei von san Lorenzo zu Florenz. Dass Michelangelo aber
als Dichter. auch als Dichter weit mehr denn Dilettant gewesen, ist seit Guasti7s authens
tischer Gesammtausgabe seiner Sonette, Madriga1e, Terzinen und Canzonen
fJmJee.
des Michelangelo
Menfchen
R0lk0ck
1871.