Volltext: Die Malerei der Renaissance (Bd. 2)

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Viertes Buch. 
Abthei1un g. 
neuen Theorien und der neuen Praxis auf dem Gebiete der Malerei nicht 
mehr streitig gemacht worden; und je besser wir durch dievin unseren Tagen 
endlich ersolgenden authentifchen Publikationen von Leonardo7s Schriften mit 
dem VVissen und Wollen des grossen Mannes vertraut werden, desto besser 
auch lernen wir feine bahnbrechende Bedeutung nicht nur für die Malerei, 
nicht nur für die ganze Kunst, sondern auch für die Mechanik, die Phyf1k und 
die gefammte Naturwissenfchaft verstehen und würdigen. 
af;E,Z,IHxJfm VVenn wir durch die Bi0graphen Leonardo7s erfahren, dass er jahrelang 
t;:sFH;jJF im Dienste italienischer und auswärtiger Fürsten als Kriegss und CivilsIngenieur 
kZ;1F;FtsxZjs thätig gewesen sei, Kanäle gebaut, Städte befestigt, Landstrecken vermessen habe, 
gsss wenn Fachgelehrte des I8. und I9. Jahrhunderts uns aus den zerstreuten Aufs 
zeichnungen und Entwürfen des Meisters beweisen, dass er Fallfchirme und 
Hobelmafchinen, Bohrmühlen und Steinfägen, Töpferscheiben und Tuchscheers 
apparate, Federhammer und Hebezeuge konstruirt habe, II wenn wir aus dem 
bekannten Briefe Leonardo7s an den Herzog Ludovico Sforza von Mailand 
ersehen, dass der Meister sich selbst der Erfindung einer langen Reihe von 
Kriegsvorrichtungen, Fa1lbrücken, Minen, Kanonen und Bombarden rühmt und 
nur zum Schlusse bescheiden hinzufi.igt vebenfo fertige ich Gemäldecc, so könnte 
es uns scheinen, als sei Leonardo in erster Linie Ingenieur und Techniker ges 
wesen und habe die Malerei nur in seinen Mufsestunden getrieben. Wenn wir 
dann andererseits hören, er habe mit dem berühmten Anatomen Marco della 
Torre eingehend Anatomie studirt,2J er habe einen wesentlichen Antheil an 
einem Hauptwerke des grossen Mathematikers Luca Pacioli,3J er habe die Cas 
mera obscura entdeckt, er habe die Theorie der Wellenbewegung des Meeres 
gefunden, er habe geologische und botanische Forschungen gemacht und das 
Gebiet der Optik und der Akustik beherrscht, so könnten wir auf den Gedanken 
kommen, Leonardo sei in erster Linie strenger theoretischer Forscher, zumal 
Naturforscher gewesen; und die Malerei würde erst recht nur als eine Nebenbes 
fchästigung des Meisters erscheinen. Allein Leonardo ist nicht nur mit scharfem, 
alles idurchdringendem wissenschaftlichen Verstande, sondern zugleich mit h6chs 
ster künstlerischer Intuition begabt gewesen, ja, er hat sich nicht nur auf einem, 
sondern aus allen Gebieten der Künste ausgezeichnet. Alte Biographen wollen 
uns sogar glauben machen, der Herzog Ludovico Ssorza habe ihn zunächst als 
Lautenschläger und Sänger nach Mailand berufen; und Vafari berichtet, Leos 
nardo sei der beste Impr0visator seiner Zeit gewesen. 4J Von feinen künstleris 
schen Leistungen als Architekt erfahren wir wenigstens, dass er eine Zeit lang 
am Mailänder Dombau thätig war; und als Bildhauer schuf er jenes gewals. 
tige Modell des Reiterstandbildes Francesco Sforza7s, welches ein Hauptwerk 
1J  B. IJmZmsi: Essai sur les ouvrages pl1ysicos1nathematiques de Leonard de Vinci, Paris 1797. 
 G. ZlJzmge7i, G. GIVE e C. Beim: saggi0 delle opere di Le0nard0 da Vinci, Milan0 1872. ss4 
E. CwzJze.s Leona1clo da Vinci als 1ngenieur und Philofoph, Berlin 1874. 
2J JlIzz7dr: Ueber M. A. T0rre und Leonardo da Vi11ci, die Begründer der bild1ichen Anat0mie, 
Göttingen 1848. 
3J Latr; PgxioZi ji Fasse F. FezJe2ZxyiJ: De divina sproportione. Venedig r509. 
4J Das überall abgedruckte angeblich einzige erhaltene sonnen: Le0nardo1S ist jedoch, wie GIVE. 
IJ2iZZZi Hin der Zeitfchrift osl1 Buonarrotiei, I875 JunisssAugulkJ nachgewiesen hat, nicht von Leonardo 
gedichtet, sondern fast ein halbes Jahrhundert älter.
	        
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