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Viertes
Buch.
Abt11eilung.
erst wurden verschiedene Anlagen und Richtungen fich über ihre eigenen Ziele
klar; jetzt erst konnten z. B. die Bibelüberfetzungen ganzen Völkern inis Bes
wufstfein übergehen und die Loslöfung eines grofsen Theiles Europa7s von der
römischen Kirche veranlaffen: Zugleich werden die antiken Studien, welche
auch in den nördlichen Ländern immer ernster und immer fystematifchcr ges
trieben werden, immer mafsgebender für die formale Seite der Durchbildung
aller geistigen, literarischen und künstlerifchen Arbeit; und diese künstlerifche
Arbeit tritt in den geistig reifsten Ländern immer mehr in den Vordergrund.
Die Künstler schwingen sich zu einer immer höheren gesellschaftlichen Stellung
empor, je bestimmter die höhere Kunst, wenn auch keineswegs in allen Stücken
zu ihrem Vortheil, sich vom Handwerke trennt und selbst mit dem Bewusstfein
auftritt, eine geistige Weltmacht zu fein. Während aber die antikifirende Richs
tung der Hochrenaiffance ihren klarsten Ausdruck in der Baukunst findet, fpies
gelt die Gefammtheit der bewegenden Kräfte jener Tage fich in keiner Kunst
lebendiger wieder, als in der Malerei. Diese übernimmt die Führung. Die
Maler find die berühmtesten Künstler der Zeit. Die Malerei ist die Trägerin
aller neuen Regungen.
Dis 3ä:i2kci XxVo das fünfzehnte Jahrhundert fich oft genug mühsam abrang, die theos
:6. J2iikh. retifch gewonnnne Einsicht auf dem Gebiete der Malerei in die Praxis zu übers
fetzen, fchaltet das fechzehnte Jahrhundert frei mit einem in Fleisch und Blut
übergegangenen Besitze; wo das fünfzehnte Jahrhundert fich in Einzelheiten
verliert und manchmal den Wald vor lauter Bäumen nicht fieht oder nicht zur
Geltung kommen läfst, geht das sechZehnte Jahrhundert geradeweges auf fein
Hauptziel los und zeigt die Klarheit feiner Einsicht und die Grösse feiner Ans
fchauung in der Unterordnung des Unwefentlichen unter das Wefentliche. VVo
das fünfzehnte Jahrhundert bei allem erstrebten Realismus und bei aller Innigs
keit der geistigen Empfindung eckig, befangen, hart und steif bleibt, macht
dem fechzehnten Jahrhundert die volle, sich als fchlichtes Spiegelbild der VVirks
lichkeit gehende Wahrheit so wenig Schwierigkeiten mehr, dafs es daran denken
kann, eine höhere und tiefere Gefetzmäfsigkeit als diejenige des zufälligen eins
zelnen Falles aufzufuchen und zur vollen Schönheit hindurchzudringen, ohne
der Wahrheit untreu zu werden. Zugleich verändert das Streben nach gröfses
rer, oft auch nach geistigerer Auffaffung die Stellung des Künstlers zu feinem
Stoffe. Dem Realismus des fünfzehnten Jahrhunderts gelang vor allen Dingen
die Wiedergabe der Eigenart einzelner Individuen. Im fechzehnten Jahrhuns
dert drängt sich umgekehrt die eigene Individualität der grofsen Meister mehr
in den Vordergrund. Infofern kann man den Künstlern des fünfzehnten Jahrs
hunderts eine grössere objektive Individualität, der Kunst seit dem fechzehnten
Jahrhundert eine gröfsere fubjektive Individualität zufchreiben. Am gröfsten
aber bleiben die grofsen Meister der ersten Generation der neuen Aera, denen
es gelingt nach beiden Seiten hin individuell zu fein.
Die:0:i2i1g2. Die grofsen italienifchen und deutfchen Meister des ersten Drittels
benden ,
Landes. des neuen Jahrhunderts, von denen jedoch einige in S zweite oder gar 1n7s dritte
Drittel hinüberreichen, find die eigentlichen klafsifchen Gröfsen diefer Epoche
der Malerei. Einige Niederländer, welche ihre alte Selbständigkeit mit dem
gröfseren WVurfe zu vereinigen wissen, schliefsen sich ihnen ebenbürtig an. Uns
zweifelhaft aber stehn die Italiener jetzt an der Spitze der Bewegung. In