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32
Buch
Drittes
Abtheilung.
Zweiter
AbfcI111ilt.
ein Todter wird durch den Antichrist erweckt. In der Höhe aber stürzt ein
Engel den Antichrist aus dem Himmel herab. Vorn am Rande steht als
Zuschauer der Maler selbst, und in dem Mönche neben ihm hat man wohl
Fra Giovanni, den Beginner des Werkes, zu erkennen.
An der Eingangswand liebt man zunächst Propheten und Sibyllen in
orientalischer Tracht C2J, welche dem Volke die kommenden Schrecken verküns
digen, während in der Ferne die Greuel von Krieg und Gewaltthat forts
dauern, die Gebäude beim Erdbeben zusammenstürzen; andrerfeits s3I das
Hereinbrechen vom Tage des Zornes: Im Feuerregen stürzen Teufel in den
kecksten Stellungen, zum Theil kopfüber, auf die plötzlich Betroffenen, Ents
setzten, lich nicht bergen Könnenden, herab. Diese zwei Bilder sind in das
schmale Hufeisen zwischen Portalbogen und Gewölbegurt gefügt und werden
oben durch eine Gruppe grau in grau gemalter Flügelknaben getrennt.
So wohlverstanden der körperliche Organismus auch bei bekleideten Ges
Halten, so frappant die Motive auf diesen Bildern sind, so ist Signorelli doch
erst da, wo das Nackte vorwaltet, ganz in feinem Elemente. An der Wand
rechts C4J folgt die Auferstehung des Fleisches. Zwei fast nackte Engel auf
Wolken, mächtig und zugleich apolliniscl1 fchön, stofsen in die Posaunen;
die Todten, die sie ausrufen, entringen sich der Erde, theils Gerippe, theils
mit Fleisch umkleidet, erstaunt in das neue Leben blickend, einander in die
Arme sinkend, erwartungsvoll und freudig aufjauchzend, fehnsuchtsvoll empors
blickend.
Die bisher betrachteten Bilder stellen die vorbereitenden Ereignisse dar;
die Wandbilder in der zweiten Hälfte der Capelle, in lich zusammengehörig,
behandeln das Jüngste Gericht, aber so, dass die Schilderung der Strafe von
der der Belohnung getrennt ist, und beide erst durch die feierlichen Gruppen
am Gewölbe wieder vereinigt und zur vollständigen Darstellung des Gegens
ltandes werden. Rechts vom Eintretenden, also links von Christus, die Strafe
der Verdammten CI Fig. 207J, gegenüber der Empfang der Seligen C8J, an
der Fensterwand beiderseits Gruppen C6, D, die nur Fortsetzung der beiden
Hauptbilder lind. Die Teufel, keine Fratzenbilder und halb komische Unges
heuer nach mittelalterlicher Tradition, sondern dämonifche Menschengeltalten
mit höhnischem Ausdruck, Hörnern, kahlem Schädel oder verwildertem Haar
und theilweise mit Fledermausllügeln, stürzen sich aus die Verdammten,
schtnettern sie nieder, würgen und fesseln sie, schleppen sie fort, zerren sie am
Haar zu Boden. Welche gedrängte Masse von GestaltenI und doch hebt sich
jedes Motiv so klar und plastisch heraus, in jedem zeigt sich die höchste 0ris
ginalität der Erfindung, gipfelnd in jener von J1JicJzeZmzg.eZn in sein Jüngste;
Gericht übernommenen Gruppe: dem Teufel, der, ein Weib als Beute auf dem
Rücken, herabwirbelt. so wie hier war in der neueren Kunst noch niemals
die nackte Menschengestalt von Wille, Leidenschaft und Erregung erfüllt wors
den. Nur die drei Engel in der Höhe, neben den kopfüber Herabltürzens
den, wie in alter Zeit als himmlische scharwächter behandelt, sind durch ihre
Rüstungen zu gemeffenem Dastehen und Vorgehen genöthigt. Auf dem Bilde
gegenüber erblicken wir die Seligen, ebenfalls nackte Gestalten, ganz von
Innigkeit und Dank durchdrungen, mässiger bewegt, aber voll Adel und
Freiheit der Form; über ihnen schweben oder sitzen vor goldenem Grunde