fpäte Mittelalter.
Das
Italien.
427
fich der einfache blaue Hintergrund der mittelalterlichen Wandmalerei aus, Hintergrund,
während Giotto und feine Zeitgenoffen in Mofaik, Tafelbildern und Miniaturen
noch bei dem Goldgrunde ftehen blieben.
In der Farbe, welche durch die Anwendung der fpäter zu erörternden 1,1mm
Frescotechnik klarer und dauerhafter wird, herrfcht eine befchränkte Palette.
In allen einzelnen Farben gibt es nur wenige Abftufungen vom Hellen zum
Dunkeln; von ftärkeren Licht- und Schattenwirkungen ift keine Rede, alles ift
in einer gleichmafsigen, harmonifchen Helligkeit gehalten. Der Vortrag beficht
in einem Coloriren der Umriffe, die noch immer als folche mitfprechen; das
Hauptgewicht ift darauf gelegt, dafs die einzelnen Farben in decorativer Hin-
ficht harmoniren; demzuliebe ift oft Einzelnes der Natur widerfprechend
colorirt, die Stoffe llIld nicht fchärfer gekennzeichnet, und es wird nicht daran
gedacht, dem Scheine des Wirklichen näher zu kommen.
Dennoch rühmen die Zeitgenoffen an den Schöpfungen Giotto's gerade Yyißlgriläfiä
ihre Wahrheit, ihre Natürlichkeit. Giotto, heifst es im Decamerone1), nwar ein
folches Genie, dafs nichts in der Natur war, was er nicht fo abgebildet hätte,
dafs es nicht nur der Sache ähnlich, fondern vielmehr diefe felbft zu fein
fChiGnßx Solche Wendungen zum Lobe von Werken der bildenden Kunft find
zwar allen Zeiten gemeinfam, den Glanzperioden des claffifchen Alterthums
wie dem primitiven Mittelalter; fie find immer nur relativ aufzufaffen nach
Mafsgabe des Bewufstfeins von Wahrheit und Natürlichkeit, das einer beflimmten
Zeit überhaupt gegeben ilt. Nach der Anfchauung feiner Zeit war nun aber
Giotto's Schritt zum Wahren allen feinen Vorgängern gegenüber koloffal-
Das, was er erftrebte, war nicht die finnliche Wahrheit der Erfcheinung, fondern
die innere geiftige Wahrheit. Statt der feierlichen Andachtsbilder malte er
folche Bilder, in denen der Befchauer handelnde, geiilig bewegte Menfchen
erblickte. Die nganz neue Auffaffung der Charaktere und der Thatfachenu ift,
wie Burkhardt fagt, fein Verdienft.
Die Geüaltung der biblifchen und legendarifchen Scenen ift zwar im _Neuc
Grofsen und Ganzen die traditionelle, wie fie in den Arbeiten der romanifchen gefäriinglm"
Periode, in den Vorfchriften des Malerbuches vom Berge Athos zu finden iit.
Aber im Einzelnen zeigt Geh, wie felbftändig Giotto das Ueberkommene durch-
dacht hatte. Mit überlegener Geifieskraft wufste er den pfychologifch inter-
effanten Kern jedes Gegenflandes herauszufinden, die Handlungen fich aus ihren
inneren Motiven entwickeln zu laffen und dadurch den Schein wirklichen Ge-
fchehens hervorzurufen. ujeder Thatfache, nfagt Burkhardt, uifl; ihre bedeutendfte
Seite abgewonnen, um auf diefe die Darftellung zu bauenm S0 werden die
Scham und das Wehe des Joachim lebendig, als der Priefter das Opfer des
Kinderlofen zurückweifl. Und diefer Ausdruck ifi dann in tiefe, fchwere Be-
kümmernifs gewandelt, als er, ganz in {ich verfunken, auf das Feld gewandert
kommt, wo zugleich das verfiändnifsvolle Mitgefühl aus den beiden jungen
Hirten fpricht, deren Blicke einander zu fragen fcheinen. (Fig. 123.) Bei
Joachims und Annas Begegnung am Thore iit die Innigkeit der Umarmung,
feine gottbewufste Demuth im Empfangen des liebevollen Grufses ebenfo wie
der Reflex diefer Empfindungen in den Umflehenden ausgedrückt. War bei
Giornata. VI,