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Zweites Buch.
Periode.
Zweiter
Abfchnitt
fchlägt das Pferd; der Krämer, der Geldwechsler ftehen in ihrem Laden; der
Tuchhändler mifst den Kunden die Waare zu. Solche Scenen find ebenfo
culturhiftorifch intereffant wie künftlerifch durch ihre naive Lebendigkeit er-
freulich.
Die Querhausfenfter in Chartres gewähren wieder für gröfsere Compofl-
tionen Raum; in der Rofe thront nördlich die Madonna, umfchloffen von drei
Kreifen mit vier Tauben über ihrem Haupte und acht Engeln, mit zwölf
Königen, endlich mit zwölf Propheten des alten Bundes; füdlich der fegnende
Heiland mit Engeln und Evangeliftenfymbolen und den 24 Aelteften. Die fünf
Fenfter darunter enthalten dort die heilige Anna zwifchen Geflalten des Alten
Teftamentes, hier die heilige Jungfrau zwifchen den eigenthümlichen Darftel-
lungen der Evangeliften, die auf den Schultern von Propheten reiten.
Kagiedrale Die fünffchifüge, in der Höhe dreifach abgeftufte Kathedrale von Bourges
von ourgeshbeiitzt in ihren 183 Fenftern noch eine Fülle von Glasmalereien aus dem
I3. Jahrhundert 1). Weit weniger zufammenhängend find die Cyklen in den
frililcäärähe Kathedralen von Reims, Amiens, Beauvais, Noyon, Soissons, Chälons,
DenkmälenTfOyCS, Le Mansi), Tours, Sens, Auxerre3). Ein Feniter diefer Epoche
mit der Gefchichte des jofeph in der Kathedrale zu Rouen enthält die Namens-
bezeichnung eines Meifters aus Chartres, das für diefen Induftriezweig ein
Hauptfitz gewefen fein mufs: Clemms vitrearizzs Carnofevzsis [V1 Die Fenfter
der Sainte-Chapelle oder alten königlichen Palaftcapelle in Paris find zwar
durchgängig unter Benutzung der {tark verwahrloften Ueberrefte reftaurirt, aber
mit foviel Stilgefühl, dafs uns heute das Innere diefes reizenden Bauwerkes
eines der fchönften Beifpiele mittelalterlicher Polychromie gewährt. Auch hier,
in der höchften Blütezeit der franzöfifchen Gothik unter Ludwig IX., ift
immer noch die alte Anordnung mit kleinen Medaillons auf Teppichgrund bei-
behalten. Den Fenftern der Kathedrale Notre-Dame zu Paris ift es übler
gegangen, da ihre Malereien fchon im vorigen Jahrhunderte auf Wunfch der
Geiitlichkeit befeitigt wurden; nur die drei grofsen Rofen, namentlich die des
Querhaufes, deren wefentlich ornamentaler Behandlung die figürlichen Motive
untergeordnet lind, zeugen noch von der alten Herrlichkeit. Aehnlich, nur
einfacher ift die Rofe des nördlichen Kreuzarmes in Soissons gehalten. Die-
felben Provinzen, welche die eigentliche Heimath des gothifchen Stiles bilden,
Isle de France, Champagne, Picardie, demnächft die Normandie, find auch vor-
zugsweife Sitze diefer Technik.
Süden. Weiter füdlich Enden wir Schulen, deren Leiftungen nicht völlig auf der
Höhe der vorigen ftehen; die Fenfler in Sainte-Radegonde zu Poitiers,
noch aus" der Zeit Ludwigs des Heiligen, {ind bei der Verbindung von farbigen
Darftellungen und Grifaillen nicht ganz harmonifch. Merkwürdig ift die Com-
pofltion eines jüngften Gerichtes, das zwifchen den Speichen eines oberen Rad-
fenfters vertheilt ift. Aehnlich im Stile find die Fenfter der Kathedrale von
Limoges.
partie,
Reims,
I) P. P. Arthur Martin et Charles Calzier! Monographie de 1a cathädrale de Bourges. I.
vitraux du I3. siäcle. Paris 1841-4844 fol. Hier auch, zum Vergleiche, Fenfter aus Sens,
Lyon, Salisbury, Strassburg, Freiburg.
2) E. Hacker, vitraux peints de 1a cath. du Mans, Paris 1865 fol.
3) Legendarifche Fenfter bei Cahier, Nouv. mäb, däcoration (Väglises, Paris 1875.