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Buch.
Zweites
Periode.
Zweiter
Abfchnitt.
Einzelgeftalten, die repräfentirenden und fymbolifchen Compofitionen fchliefsen
{ich zu einem grofsartigen epifchen Cyclus zufammen, der den Gefammtinhalt
der chrifllichen Lehre entwickelt. Von der Weftwand, in der oben ein grofses
Anordnunß-Radfeniier zu ftrahlen pflegt, ziehen fich die Bilder in ruhigem Verlaufe in
den Seitenfchifffenfiern und den Oberfenftern des Mittelfchiffes entlang, zwifchen
denen {ich noch eine dritte Bilderreihe in kleinem Mafsflabe befinden kann,
falls auch die Triforien oder Laufgänge über den Arcaden durchbrochen ge-
bildet find. Die grofsen Fenfler der Querhausfronten gewähren dann für be-
fonders reiche, in {ich abgefchloffene Darfiellungen Raum, und endlich findet
das Ganze in dem Chore mit feinem Capellenkranze Ziel und Höhepunkt.
In keiner einzigen Kathedrale ifl diefer Cyklus vollftändig erhalten; dennoch
geben namentlich einige franzöfifche Monumente noch ungefähr ein Bild von
Kathedrale der urfprünglichen Decoration; vor allen die Kathedrale von Chartres mit
ciiägiles. ihren 146 Fenftern, die gröfstentheils dem I3. Jahrhundert angehören l). Ob-
wohl lie in vollkommen entwickelter Gothik ausgeführt iPr, hat fie doch noch
keine eigentlichen Mafswerkfenlier, fondern, als Vorftufe zu folchen, Fenfler-
paare und über denen des Obergefchoffes Ptets ein grofses Radfenfter. An der
Hauptfront enthält die Rofe über den drei bereits befchriebenen älteren
Fenftern das JüngPce Gericht, das auch bei Wandmalereien feine Stelle an der
Weflwand zu finden pflegte. Weiterhin zeigen die Oberfenfler gröfstentheils
Einzelgeftalten, Propheten, Apoftel, Heilige, die unteren Fenfter Paflionsdaritel-
lungen, die Gefchichte jofephs, die Legenden des jacobus, Nicolaus, Euiiachius,
Stephanus, St. Thomas von Canterbury und vom heiligen Hemde der jung-
frau, eine Erzählung, in der Karl der Grofse eine Rolle fpielt; fodann die
Gefchichte vom verlorenen Sohne, die ähnlich auch in den Kathedralen von
Bourges und Sens vorkommt 2). Die Erzählung ift breit, behaglich, epifoden-
reich, auch bei wenigen Figuren anfchaulich. Ein ähnlicher Ton wie in den
altfranzöfifchen Fabliaux iPt bei der Schilderung vom lockeren Leben des ver-
lorenen Sohnes angefchlagen (Fig. 110). Da wird gekoft, gefpielt, und zwar
auf einem Damenbrette, das bei dem Mangel jeder Perfpective fenkrecht fteht,
getafelt und dazu aufgetragen, bis die Schönen endlich den ausgeplünderten
Jüngling aus dem Bette auf die Strafse fetzen. Alles ift in dem zierlichen
Gefchmack, den weichen, gefälligen Motiven gehalten, die wir aus den Minia-
turen diefer Periode kennen.
Genrehaftes. Die hier hervortretende Neigung zum Genrehaften findet aber auch an
anderer Stelle Raum. Die Fenfter wurden nicht aus der Caffe der Bauhütte be-
ftritten, fondern waren fromme Stiftungen von Einzelnen und von Corporationen.
Während die Privatperfonen als Stifter in den unteren Abtheilungen ihres
Fenflers zu knieen pflegten, verewigten die Zünfte fich dadurch, dafs fie die
Verrichtungen ihres Handwerkes darilellten. S0 fehen wir in Chartres wie
in Bourges und Amiens die Maurer und Steinmetzen, die Zimmerleute, Tifch-
ler, Bötticher, Schufter, Fleifcher, Seiler bei ihrer Arbeit; der Huffchmied be-
I) Lassus et Dzwal: Monographie de la cathedrale de Chartres, unvollendetes Praclltwerk
zahlreichen vorzüglichen Tafeln, zum Theil in Farbendruck. Aufserdem, für Chartres wie faft für
franzöfxfchen Denkmäler das S. 307 citirte Werk von Lzzsleyrie.
2) Vgl. das unten citirte Werk von Calzier und Martin.
mit
alle