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Zweites Buch.
III. Periode.
Erßer Abfchnitt
mit länglichen Händen und oft gehäuften Gevvandmotiven. Das Bedeutende
ift aber das Ringen mit der Form, das Streben nach Befeelung, nach gciftigern
Ausdruck. Die Gefälligkeit der Franzofen fehlt dabei freilich; harte Bewegun-
gen, übertriebene Züge kommen vor; aber der Künüler hatte etwas zu fagen
und verfiand es bei allem Dilettantismus, Geftalten wie die fchmerzensreiche
Maria (B1. II) oder den Auferftandenen, der feiner Mutter erfcheint, (B1. I6)
mit grofsartigem Pathos zu durchdringen. In der Architektur herrfcht bereits
die Gothik des I4. Jahrhunderts.
Neue
franzöfifche
Schule
Mitte
feit
des
Jahrhunderts.
Bläigellzgfäg; In der Mitte des I4. Jahrhunderts tritt in Frankreich ein veränderter Stil
auf, der {ich in allen Beziehungen aus dem vorigen heraus entwickelt, aber {ich
von ihm dadurch unterfcheidet, dafs er ein wirklich malerifches Verfahren aus-
gebildet hat. An Stelle der in Deckfarben colorirten Federzeichnung tritt
eine modellirende Gouachemalerei. Der Maler arbeitet mit dem Pinfel, gibt
mit ihm den Dingen Schattirung und Relief und läfst in der Farbe auch die
Form zur Geltung kommen, ftatt, wie bisher, die Dinge nur in ihren äufseren
Umriffen zu fehen. Ein Fleifchton von grofser Zartheit und feiner Modellirung
wird eingeführt, während man {ich früher im Nackten mit dem ausgefparten
Pergamente behalf. Kräftige, lebhafte Töne verbinden {ich in den Gewändern
mit gebrochenen und erreichen bei aller Leuchtkraft wohlthuende Harmonie.
Wie die Glasmaler diefer Zeit, von denen wir fpäter reden werden, wenden
Grißaillen. auch die Miniatoren oft die Malerei grau in grau an, die durch kräftige Schat-
tirung plaftifch wirkt, während nur die Fleifchtheile leicht colorirt find, und
{onit gelegentlich Farbe oder Vergoldung in dennBordüren der Gewänder,
im Beiwerk, am Fufsboden vorkommen. Diefes neue malerifche Gefühl i{l; zu-
gleich mit genauerer Beobachtung des Lebens verbunden, obwohl in Ausdruck
und Handlung den Küniilern immer noch das Milde, Anmuthige beffer als
Anfänge du das Entfchiedene gelingt. Mitunter ift fogar ein Streben nach dem Individuel-
len wahrzunehmen; fo {ollte zum Beifpiel in den Stifter-Bildern oft ein
wirkliches Portrait gegeben werden. Die ideale Gewandung, breiter und
wirkungsvoller geworfen als bisher, bleibt den heiligen Geftalten, fonft greift
in den Nebeniiguren religiöfer Bilder, in den Scenen aus Chroniken und
Romanen oder aus dem claffifchen Alterthume, die jetzt mit den Ueber-
Coßüm und fetzungen antiker Schriftfteller immer häufiger werden, das ZeitcoPcüm in noch
Beiwem gröfserem Umfange als bisher Platz, und wird, ebenfo wie alles Beiwerk,
Möbel, Baldachine, Geräthe, architektonifche Nebendinge, mit grofser Präcifion
Hinter- behandelt. Dagegen bleiben die Hintergründe zunächft immer noch wie fie
gründe" waren: farbige Teppichmufter, etwa in Schachbrettform, mit gelegentlicher
Anwendung von Gold. Eril am Schluffe der Periode hat der malerifche Sinn
das Bedürfnifs, auch den Hintergrund auszubilden, durch Bäume von" conven-
tioneller Form, Hügel, Gebäude gothifchen Stiles, und blauen Himmel die reale
Umgebung anzudeuten, wobei in der Linienperfpective nur getaftet wird,
Rand- während die Luftperfpective gänzlich fehlt. In den Initialen und den Rand-
Ornament Verzierungen waltet der frühere Gefchmack weiter; das DornblattmuPrer, dem
fich nach und nach kleine farbige Blümchen einfügen, wird von Vögeln, ge-