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Zweites Buch.
Periode.
aus diefer Periode faft in geringerer Zahl als aus derjenigen des romanifchen
Stiles, in welcher Chroniken und felbft Infchriften häufiger den Namen eines
kunftfieifsigen Mannes, befonders eines folchen, der in einem Klofter fchuf,
überlieferten. jetzt ift aber die Kunft ein bürgerliches Gefchäft, ein Erwerbs-
zweig. Der Einzelne nimmt inmitten der Corporation befcheiden feine Stellung
ein und denkt nicht daran, perfönlich vor feinen Genoffen hervorzutreten.
Wräplicher Kommt aber auch nicht der einzelne Künftler in feiner Individualität zur
um Geltung, fo doch der Stand, dem er angehörte. Die bürgerlichen Meifter find
von einem ftrebfamen, frifchen Geifle erfüllt. An dem Ueberlieferten halten
fie mehr aus Uebung und Handwerksbrauch als in Folge von Abficht und
theoretifchem Studium feft. Sie ftehen mitten im Leben, fie verkehren mit
der Natur und nehmen ihre Eindrücke auf; ihre Phantafie war von der Dich-
tung mit neuen Vorftellungen und Empfindungen erfüllt worden und ward
immer aufs neue von der Feftluft der Zeit, der felbft alle Vorkommniffe im
kirchlichen und im Staatsleben zum Schaufpiele wurden, genährt. Ein Zug der
Lebensluft, der üppigen, oft derbfinnlichen Genufsfreude durchdringt alle
Claffen und bleibt felbft dem geiftlichen Stande nicht fremd, wird oft von der
kirchlichen Askefe überwältigt, die jetzt befonders leidenfchaftliche Formen
annimmt, aber wacht immer wieder im Gegenfatze zu derfelben auf.
Neue igßli- Die bisherige Kunft hat wefentlich nur Einen Ausdruck gekannt: den der
gmman Feier, der kirchlichen Strenge, der gottbewufsten Erhabenheit. Diefer ift jetzt
erlofchen, und mit ihm viel von der früheren Herrlichkeit chriftlicher Kunft. Wo
der theologifche Geift fich geltend macht, ift der Einf-lufs der Scholaftik wahr-
nehmbar, die auf künflliche Verknüpfung und Zufammenftellung der Gegenftände,
wie wir fie in den Bilderbibeln finden werden, auf rnyftifche Vorftellungen
ausgeht und gerade dadurch die ruhige Einfachheit der älteren Kunft zerftört.
Die ftarke religiöfe Empfindung, welche das ganze Mittelalter durchdringt,
waltet auch jetzt noch, ja fie ift, der Zeitftimmung entfprechend, fogar zu einer
erregten Begeifterung gefteigert. Aber der Menfch unterwirft fich ihr nicht mehr
blindlings, jedes eigenen Willens fich entäufsernd, fondern nimmt fie in fein
Bewufstfein auf. Die heiligen Geftalten rückt er dem Verftändnifs näher, er
läfst fie menfchlicher und in milderer lrVürde erfcheinen und rein menfch-
liche Empfindungen, Frömmigkeit, Hingabe und Liebeswärme, ausathmen.
Die Demuth, _das Gefühl der Unzulänglichkeit dem Göttlichen gegenüber,
waltet vor, aber ihre Starrheit ift überwunden, und fo bleibt jetzt für- eine
beftimmte Stufenleiter des Empfindungsausdrucks Raum, deffen Befcheidenheit
anzieht und deffen Naivetät feinen Reiz bildet.
Zäpgäraiif Will nun der Künftler bei der Darftellung menfchlicher Geftalten, ein-
zeln oder in beftimmten Gruppen und Scenen, eine Sprache der Empfindung
entwickeln, fo gibt es dafür nur Ein Mittel: eine genauere Auffaffung der
Natur. Freilich bleibt die Naturkenntnifs auch jetzt noch eine fehr bedingte,
der Maler gelangt noch nicht dazu, die Natur zu ergründen und zu bewältigen,
aber er öffnet ihr gegenüber fo weit das Auge, wie das Empfindungsleben, auf
deffen Darftellung er ausgeht, es verlangt, denn nicht um ihrer felbft willen,
fondern nur als das Mittel, um beftimmte Empfindungen auszudrücken, werden
die Dinge der Wirklichkeit wiedergegeben. Für die Art, wie die Künftler des
13. Jahrhunderts ftudirten, gewährt uns das köftliche Skizzenbuch des franzöfi-