Das hohe Mittelalter.
läliniaturmalerei.
Die
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würdig. Gaukelfcencn und Kampffcenen kommen vor, das Traumhafte,
Abenteuerliche, ja Dämonifche wird hervorgefucht, und dem Ueberfchufs an
Erfindung und Laune gefeilt {ich die formelle Gefchicklichkeit, ldie gar oft
gewaltfame Stellungen anwendet, aber alle Motive mit kühner Sicherheit er-
greift, fogar das Nackte zu behandeln weifs und bewundernswerthen Linien-
fchwung fowie großartige Gefchloffenheit der Compofition erreicht.
Dergleichen phantafiifche Darftellungen kommen auch im architektonifchen
Ornamente des romanifchen Stiles, in Säulencapitellen, Friefen, Portalum-
rahmungen vor, und es hat die neueren Forfcher der mittelalterlichen Kunit
oft gereizt, einer fymbolifchen Bedeutung in ihnen nachzufpüren, entweder
Reminifcenzen aus der nordifchen Mythe oder Aeufserungen religiöfer Myitik
in ihnen zu fehen. Aber fchon der Umftand, dafs der formelle Urfprung
folcher Thierfiguren und F abelwefen im architektonifchen Ornamente nachge-
wiefen ift, indem die orientalifchen Teppiche, im Abendlancle immer eine gang-
bare Waare, ihre unverkennbaren Mutter enthalten, 1) {teht anderen Interpre-
tationen entgegen. Dazu kommt jene bekannte Briefftelle des heiligen Bern-
hard, der gegen die phantaftifche Ornamentik der Kreuzgänge mit Unge-
heuern, fabelhaften Beftien, Halbmenfchen, Kampffcenen eifert, durch welche
der Betrachtende von der religiöfen Befchaulichkeit abgelenkt werden müffe.
Das reicht hin um darzuthun, dafs f1e nicht zunächft in fymbolifcher Abficht
gefchaffen wurden, wenn auch vielleicht die Phantafie des Volkes nachträglich
in folche fchon beftehende Formfpielereien eine Deutung hineinzulegen fuchte.
Damals wurden die Handfchriften der Beftiarien, des Phyfiologus, immer be-
liebter, welche verfchiedene wirkliche und fabelhafte Thiere aufzählen und
abbilden, von ihren Eigenfchaften berichten und in diefen Anfpielungen auf
chriftliche Heilswahrheiten fuchenß) diefe Fabelliteratur gewann einen grofsen
EinHufs und rief dann auch wirklich Bildwerke, die von folcher Auffaffung
getränkt waren, hervor.
Doch in den Verzierungen der Handfchriften hat diefe myflifche Auffaffung
weit Weniger Boden als in der architektonifchen Decoration. Der Phoenix, der
Pelican, wie wir {ie im Evangeliarium Heinrichs des Löwen gefunden, find
zwar Motive aus dem Phyfiologus, aber derartiges tritt nur vereinzelt auf. Bei
den phantaftifchen Initialen nach einem befonderen Sinne zu fuchen, etwa den
Drachen beim Pfalme vSalvum me faca als Verkörperung einer drohenden
dämonifchen Macht aufzufaffen, Würde zu weit gehen. Gerade diefe kalli-
graphifche Ornamentik iit ein freies Spiel der Einbildungskraft, das durch die
Keckheit und Laune, mit der es ernfte Daritellungen umrankt und unmittelbar
neben der feierlichen Kirchlichkeit durchbricht, der mittelalterlichen Kunit einen
befonderen Reiz verleiht.
Wir haben jetzt folche Handfchriften berückiichtigt, deren Bilder forg- zeichnemie
fältig in Gouachemalerei auf goldenem oder farbigem Grunde ausgeführt find Darneuunt"
I) A. Springer, Ikonogrnphifßhß Studien, Mitthcilungen d, k. k. Centn-Comm. V. (X860) S. 67.
2) G. Heider, Physiologus, nach einer Handfchrift des XI. Jahrhunderts, Archiv f. Kunde ößerreichi-
fcher Gefchichtsquellen, V, S. 541. Eine durch Alter und Kunftwerth befonders wichtige Handfchrift
des Bestiaire, nach Waagen franzöüfch um 1200, im Afhmolean Mufeum zu Oxford. Andere Hand-
fchriften zu Briiffel und Paris, verwerthet bei Calzier und Marlizz, mölanges (Yarchäologie, II, mit Ab-
bildungen; vgl. auch Calziur, nouv. mälanges, cur. mysterieuses.