Volltext: Die Malerei des Alterthums (Bd. 1)

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Zweites Buch. 
Periode. 
Erßer 
Abfchnilt. 
Geftalten kommt der fliefsende Zug der Haltung, eine leife, weichere Neigung 
des Hauptes, eine freiere, nach Anmuth ftrebende Bewegung der Glieder, 
durch welche die ehemalige Strenge und Feierlichkeit aufgehoben ilt, endlich 
eine gewiffe Scharfbrüchigkeit der gut gezeichneten Gewandung, entfprechend 
jener Neigung zum Schärferen, Eckigen an Stelle der rundlichen Formen, 
welche nun den ganzen Gefchmack der Epoche umzugeftalten begann, einen 
neuen Bauftil, den gothifchen, durchdrang und alle Aeufserungen des Formen- 
finnes, auch die Schrift beeinllufste. Bei der Kreuzigung mit dem ftark aus- 
gebogenen Chriftuskörper ilt der Ausdruck des Schmerzes in Johannes fchon 
von eigenthümlicher Weichheit, bei dem jüngiien Gerichte find das fanfte Flehen 
lVIaria's, die hier grün gekleidet iPc, die freudigen Geberden der Seligen aus- 
drucksvoll. Die Darftellung von Abrahams Schofse am Ende des Buches mit 
lieblichen Nebenfiguren, die Blumen und Früchte darreichen, ift befonders an- 
ziehend. Die {ichtliche Hinneigung zu einem freieren Stile wie die gleichmäßige 
Sorgfalt der Ausführung begründen die hervorragende Bedeutung diefes Werkes. 
Aber in einer Zeit, in der Poefie und ritterliche Sitte in Deutfchland fchon 
fiark von franzöfifcher Einwirkung überfluthet waren, hatte die Malerei llCh 
doch ihren vaterländifchen Charakter bewahrt und brachte in diefem noch 
immer Schöpfungen hervor, denen kein gleichzeitiges franzöfifches Product 
{ich an die Seite fetzen liefse. 
Ein verwandtes Gebetbuch deffelben Fürlten befltzt das Capitelsarchiv 
zu Cividale im Friaul; zweimal fmd hier der Landgraf Hermann und Sophie 
dargeftellt, das einemal vor der Dreifaltigkeit knieend mit dem Modell der 
Kirche zu Reinhardsbrunn1). Diefen Handfchriften find dann als andere her- 
vorragende Schöpfungen des fpäteften romanifchen Stiles ein Pfalterium 
deutfchen Urfprungs in Paris 2) zwei bilderreiche Pfalterien in Hamburg (Stadt- 
bibl. Nr. 85) und zu Bamberg (Bibl. Nr. 232) fowie ein aus Mainz ftammendes 
Evangeliarium in Afchaffenburg (Kgl. Bibliothek. Merkel Nr. 3) anzureihen. 
In den Codices diefer Stufe verdient dann aber namentlich noch die 
Ornamentik der Initialen eine befondere Beachtung. In diefem wefentlich 
kalligraphifchen Theile der Miniaturmalerei hatte die romanifche Periode fich 
bisher immer noch ganz in den Bahnen des karolingifchen Stiles bewegt und 
deffen Phantafiefpiele mit Geriemfel, Blattwerk und Thiermotiven fortgefetzt, 
fie höchftens leife umgebildet. Jetzt beginnt das, was nebenfächlich war, Blatt- 
werk und Figürliches, den Ton anzugeben, mitunter die Bänder, das Flecht- 
werk, die Linienfpiele vollftändig aufzuzehren. In dem erwähnten Pfalter in 
Paris (lat. 17961) kommt unter mehreren grofsen Initialen in Blau, Grün, Silber 
u. f. w. auf Goldgrund jenes S vor (Fig. 79), in welchem der Körper des Buch- 
Pcabens felblt aus einem geflügelten Drachen befteht, und charaktervoll Ptilifirtes 
Blattwerk, feinem Rachen und feinem Schweif entquellend, die Füllungen 
bildet. Ein ganz ähnliches S, nur um eine männliche Gefialt bereichert, die 
mit dem Speer in den RaChen CleS Ungethümes ftöfst, fehen wir in dem Stutt- 
garter Pfalter des Landgrafen Hermann. 3) Hier lind auch alle anderen Ini- 
Cividale. 
Initialen. 
I) Jahrbuch der k. k. Centralkomnaifüon II. 
2) Bibl. nat. lat. 17961.  Labarte Taf. 91. 
3) Abbild. Kugler a. a. O. 
Holzfchnitt. 
mit 
300,
	        
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