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Zweites Buch.
Periode.
Erüer Abfchnitt.
dargefiellt. Beim. Abendmahle (Fig. 75) fxtzen der Heiland und die Apoftel
jenfeits einer langen Tafel, nur Judas vorn, Johannes liegt wie ein Kind, auch
kleiner, auf dem Schofse Chrifii. Hier ift recht anfchaulich, wie die primitive
Kunft bei der Darfiellung einer Handlung nicht über das Nacheinander hinaus
komm-t. Chriiius und Judas tauchen gleichzeitig ihre Biffen in die Schüffel, Judas
führt aber aufserdem mit der anderen Hand noch einen Biffen, welcher den
eben eingetauchten voriiellen foll, zum Munde, Wobei ihm zugleich ein fchwarzer
Vogel, Sinnbild des Böfen, einfliegt. Bei einförmigen, herben Köpfen, derben
Umriffen, geftricheltem Vortrage in den Schatten und kräftiger Ausführung
in Deckfarben zeichnet fich diefes Werk namentlich durch die Strenge aller
Motive aus. Häuhg kehrt die Geberde der Feier mit erhobener ganzer Hand
wieder. So verftändnifslos auch das Nackte iPc, überrafchen doch bei dem
auferftehenden Todten nach der Kreuzigung wenigftens die kühnen Intentionen.
Ein reiches fränkifches Hofcoiiüm mit Bordüren, Edelfteinbefatz und Fibula am
Mantel kehrt oft wieder, auch Maria oder die Engel iind häufig fo, fiatt in
der überlieferten antiken Tracht, dargeftellt. Auch in der Pracht der Orna-
mentik gehört diefer Codex zu den reichften der Zeit. 1)
Aiizrreäiquälirxgg. ErPc um die Mitte des 12. Jahrhunderts, unter dem Hohenftaufenhaufe,
trat dann ein neuer Auffchwung ein, der auf dem Gebiete der Architektur in
den grofsen gewölbten Domen der Rheinlande gipfelte, aber auch den anderen
Künilen zugute kam. Die Vorzüge der Malereien feit diefer Zeit find zunächft
negativer Art. Die Häfslichkeit und Roheit der früheren Arbeiten {ind ge-
mindert, die Verhältniffe lind nicht mehr fo unücher, die Extremitäten nicht
mehr fo ungefchickt, die Hände nicht fo unförmig grofs, die Füfse nicht ganz
fo fchwach. Der ausgebildete architektonifche Sinn hat auch auf die Auffaffung
der menfchlichen Geiialt gewirkt, die zwar immer noch fchematifch, aber mit
befferem Gefühle für Verhältniffe dargefiellt wird. Die antiken Reminifcenzen,
die noch vorgehalten hatten, verlieren {ich jetzt vollends in den Motiven wie
in den Aeufserlichkeiten des Coilümes; aber das iPc kein Nachtheil, da fie bis-
her mit immer gröfserer Verftändnifslofigkeit verwendet worden waren, und die
entartete Clafiicität nur eine Schranke für die Phantafie gebildet hatte. Vor
allem war aber bei ausgedehnter Praxis die Sicherheit der Hand in Zeichnung
und Malerei gewachfen, und mit der Herrfchaft über die Mittel war auch die
Phantafie im Stande {ich freier und felbfiändiger zu regen.
Iciigirsiäcääli- Eine der berühmteften Bilderhandfchriften aus der zweiten Hälfte des
Ililaerfäzgeigf 12. Jahrhunderts, der Luftgarten (hortus deliciarum) der Herrad von Lands-
perg, Aebtifiin des Klofters Hohenburg im Elfafs, ift im Jahre 1870 durch den
Brand der Strafsburger Bibliothek während der Belagerung zu Grunde gegangen,
aber man darf ihrer noch gedenken, da eine ausführliche Würdigung in der
Kuniiliteratur und theilweife auch Publicationen vorliegen?) Das Buch, in dem
die Jahrzahlen 1159 und 1175 vorkamen, war ein Cornpendium alles Wiffens-
werthen aus religiöfem wie profanem Gebiete, zufammengeftellt als ein Hand-
I) Abbild. bei Wacel, Mitth. d. Centr. C., V (1860) S. 10;
Böhmen.
2) Clzrixlian Mariz Engeikardt: Herrad von Landsperg
1 Bd. 80. I Atlas mit I2 Taf. Fol. Stuttgart u. Tübingen 1818.
Derf. Kalligraph. Denkmale aus
und ihr Werk Hortus deliciarum,