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Zweites
Buch.
Periode.
durch Ueberlieferung und Autorität beftimmt. Da aber für fie die Tradition
des claffifchen Alterthums länger fortlebte, Pcand fie damals immer noch auf
einer ganz andern Höhe als die abendlandifche. Diefe jedoch, von jungen,
lebenskräftigen Völkern getragen, flrebte vorwärts, während die byzantinifche
Kunft nur mechanifch fortdauerte und rückwärts ging. Schon inmitten der
ianhci-suutäppifchen Unbeholfenheit, der Formlofigkeit und Häfsliclikeit, welche den
Bildern aus dem Anfange unferer Periode anhaftet und fie auf diefer Stufe
fogar den Erzeugniffen der Karolingerzeit gegenüber roh erfcheinen läfst. ver-
künden fich manche Züge naiver Empfindung, mögen fie fich auch unklar,
unzulänglich oder übertrieben äufsern. Sie führen allmählich zu Fortfchritten,
die zunächft der Technik, dann aber auch dem Stile zugutekommen. Der
Sri-enger Sril- glänzende Auffchwung der Baukunft wirkt bahnbrechend für die übrigen Künfte;
der an der Gefetzmäfsigkeit der Architektur gefchulte Geift fucht auch bei der
Geiialtung der organifchen Natur nach Gefetzmäfsigkeit der Erfcheinung und
kann bei der alten Unficherheit und Willkür der Formen nicht ftelien bleiben.
Da es ihr aber an felbfländigem Naturgefühl fehlt, behandelt die mittelalter-
liche Kunft die aus der Natur genommenen Erfcheinungen nicht nach deren
eigenen Gefetzen, fondern überträgt auf fie das Gefühl für architektonifche
Ordnung und Gefetzmäfsigkeit. An Stelle der fchwankenden Körperverliält-
niffe, der plumpen Formen, der ungefchickten oder übertriebenen Bewegungen
tritt gröfsere Regelmäfsigkeit und Ruhe; der Körper wird nach beflimmten
Mafsverhältniffen gebildet, in der Gruppirung und Anordnung wie in den Ge-
berden walten Symmetrie und architektonifche Strenge. In Verbindung mit
den Werken der Baukunft gewinnen die übrigen bildenden Künfte eine fichere
Haltung. Diefer architektonifehe Charakter geht in allen Leiftungen der da-
maligen Malerei, die fich über das völlig Primitive erheben, durch, auch in
den Miniaturen und blofsen Federzeichnungen der Handfchriften; die Hüeh-
tigften Producte diefer Art nehmen üch häufig aus, als feien fie für den Schmuck
grofser Wandilächen componirt.
_Damit ift der erite grofse Schritt in der mittelalterlichen Kunitentwicklung,
derjenige vom rohen Stile zum ftrengen Stile gethan. Auch auf diefer Stufe
fieht aber der Künftler noch unter dem Banne des Ueberlieferten, Typifchen,
und erft am Schluffe der Epoche beginnen die Beltrebungen, die künitlerifche
Auffaffung von diefer Gebundenheit frei zu machen und zu dem Ausdrucke
felbftändiger Empfindung und eigener Anfchauung vorzudringen. Aber der
freie Stil, zu welchem damit ein Anlauf genommen wird, kann doch auf der
Bildungsftufe des Mittelalters noch nicht erreicht werden.
Gejlljjchc Die Ausübung der Kunit lag während der romanifchen Periode grofsen-
aiglküjäfä, theils in der Hand des geiftlichen Standes, wenn auch die neuere Forfchung
nachgewiefen hat, dafs dies keineswegs fo ausfchliefslich der Fall war, wie
man früher anzunehmen pflegte. 1) Vielmehr ift unter denjenigen Künftlern
unferer Periode, von denen uns lnfchriften Kunde geben, die Zahl der Kleriker
nicht erheblich, während folche in den Notizen der Gefchichtsquellen ungleich
häufiger vorkommen, da eben die Chroniften felber geiftlichen Standes zu fein
I) Anlon. Henr. Sfrizgqer: De artiücibus monachis et
in den Mitth. d. k. k. Central-Comm. 1362, S. I.
laicis medii nevi,
Bonn I S61
deutfch
auch