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Erftes Buch.
Zweiter Abfchnitt.
lichen Empfindungslebens kommt in den Zügen zum Vorfchein. Wie die Charak-
tere, fo find auch die Geberden typifch; ihre Sprache ift eine eng begrenzte.
Immer in gleicher Weife fchreitet der Fufs vor, Wendet fich das Haupt, erhebt
fich die Hand des Redenden. Des felbftändigen Naturftudiums war man längfl
entwöhnt, nun aber beginnt auch das Verftändnifs der kühftlerifchen Vorbilder,
das Urtheil bei deren Wahl zu finken. Das Nackte wird mehr und mehr ver-
mieden, aus fittenftrenger Scham, die hier der wachfenden Unfähigkeit zu
fiatten kommt.
Die chriftliche Geftaltenwelt felbft, auf die der Künfiler angewiefen ift, be-
günftigt die Einfeitigkeit des Ausdruckes, welcher diefe Periode zuftrebt. Inner-
halb ihrer Grenzen walten ftrenge Erhabenheit und ernfte Feierlichkeit vor, fo
in Chriftus, den Apofteln, der immer matronenhaften, niemals anmuthig-jugend-
lichen Maria. Die reine Schönheit hat hier kaum eine Stelle, oder kann
höchftens noch in den Idealgefialten der Engel, jugendlich edlen Wefen mit
nackten Füfsen und fanft wallender Gewandung, zu Tage treten. Oft ift der
claffifche Formenfinn damals und fpäterhin noch lebendig genug, um fich für
die Begrenztheit des chriftlichen Bilderkreifes durch freie Idealfiguren, Perfoniß
ficationen im claffifchen Stile, zu entfchädigen. Aber wie häufig wir das auch
in den Bilderhandfchriften finden werden, fo felten war es doch der monu-
mentalen Kunft in den Mofaiken der Kirchen geftattet. Hier waren der dog-
matifche Charakter und die lehrhafte Tendenz befiimmend.
Hüten niufs man fich aber, diefen Stil, wie er feit juflinian fich in den
italienifchen Arbeiten ausbildet, als byzantinifchen zu bezeichnen. Die Be-
nennung würde der falfchen Vorftellung Raum geben, als habe ein Bruch mit
der einheimifchen Kunftübung ftattgefunden, und als feien, feit der byzai1-
tinifchen Eroberung, Vorbilder und Kräfte von Byzanz her geliefert worden.
Dafür fehlt es angenügenden Anzeichen und Beweifen. Auf den ravennatifchen
Mofaiken feit juftinian kommen nicht einmal griechifche Infchriften vor, die
in der Folge, übrigens auch nur bedingterweife, als Beleg für die Ausführung
durch griechifche Hände gelten können. Die Kunitgefchichte mufs fich zur
Aufgabe machen, den Begriff vbyzantinifche Kunftu noch fchärfer, als üblich
ift, zu begrenzen. In den erften Jahrhunderten ift die byzantinifche Kunft
nicht von der italienifch-altchriftlichen unterfchieden. Wie die griechifch-
römifche Kunft der ganzen civilifirten Welt angehörte, in Italien, Gallien,
Africa, Syrien, Griechenland in gleicher Weife ihren Boden hatte, fo hat auch
die chrifiliche Kunft zunächft überall einen gleichartigen Charakter. Wir werden
erft fpäter den Zeitpunkt kennen lernen, in welchem wirklich eine künftlerifche
Scheidung zwifchen Byzanz und dem Abendlande eintritt. Aber auch dann
ift zunächft keineswegs die gröfsere Starrheit, das Conventionelle, fondern
vielmehr das iiärkere Fefthalten an der antiken Technik und Tradition dem
Ofcen vor dem Abendlande eigen.
Byzantinifche
Mofaiken.
Nova Roma.
Schon lange war das fmkende Rom durch die neue Hauptüadt des
Weltreiches in Schatten geflellt worden, die Confiantin der Grofse an
der Grenze von Europa und Aüen gegründet hatte. Die kleine griechifche