156
Kunst.
Die griechische
genau so wiedergegeben, wie sie unter dem Einflusse des
äufseren Druckes, des Schmerzes, der Leidenschaft erscheinen
mufsten. Auch sie haben auf den Zuschauer wirken wollen
durch überraschend genaue WViede-rgabe des Naturwahren ; aber
der Inhalt ihrer Kunst ist idealistisch, da sie Vorgänge dar-
stellen, die dem Reiche der Phantasie angehören. Und sie
fühlen sich als Herrscher in ihrem Reiche. Denn sie kennen
keine äufseren Schranken, welche sie hinderten, die kühnen Ge-
bilde ihres schaifenden Geistes in lebensvolle, greifbare Ge-
stalten umzusetzen.
Aphrodite von Melos. (Taf. 23, Fig. Ganz andrer
Art ist das folgende Bild. Hier erblicken wir ein jugendlich
blühendes, hoheitsvoll schönes, bis zur Hüfte unbekleidetes
Weib. Es ist zwar ohne äufsere Abzeichen, aber so erhaben,
dafs es nur eine Göttin, so anmutig, dafs es nur Aphrodite sein
kann. Eine andere Göttin würde auch nie halbnackt dar-
gestellt worden sein. Da aufser den Attributen auch die
Arme fehlen, so ist es bis jetzt noch nicht gelungen, in un-
anfechtbarer Weise festzustellen, in welcher Handlung be-
griffen man sie sich denken sollss). Doch sehen wir soviel
an der Richtung des rechten Ober-armes und an dem An-
satze des linken, dafs sie nicht wie die früher betrachteten
Kultusbilder in völlig unthätiger Ruhe dasteht. Von der rech-
ten Hand ist es sehr wahrscheinlich, dafs sie in der Nähe
der linken Hüfte das Gewand gehalten habe; denn SChmiegt
sich das Kleid, das den untern Teil des Körpers fast ver-
hüllt, auch eng an und wird es auch von dem linken, höher
gestellten Bein etwas unterstützt, so dürfte es doch, wenn es
nicht von oben gehalten würde, herabfallen. Solch naturwidrige
Anordnung aber hätte der Darstellungsweise der griechi-
schen Kunst nicht entsprochen. Die Göttin steht ruhig auf
dem rechten Beine, die rechte Hüfte ist stark ausgebogen,
der linke, vorn zerstörte Fufs (er ist an unsrer Figur ergänzt)
steht auf irgend einer Unterlage, wodurch das Heraufziehen
des Knies begründet ist. Das Gewand ist in grofsartig ein-
fachen, scharfen Falten um den untern Teil des Körpers ge-
legt, ohne aber die Glieder zu verbergen. Aus dieser Hülle
spriefst einer holden Blüte gleich der jugendfrische, keusch
und edelgeformte Leib hervor. Das Haupt hat die Göttin
leicht erhoben; stolz und selbstbewufst scheint sie in die
Ferne zu blicken. Das voll, aber edel gebildete Antlitz zeigt
Ernst und Würde, ja im Munde, dessen Winkel etwas herab-
gezogen sind, ist eine gewisse Strenge angedeutet; nur das
Auge hat einen etwas schmachtenden Ausdruck, indem es
ein wenig nach oben gerichtet und das untere Augenlid