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Die griechische Kunst.
Hermes in Neapel. Taf. 21, Fig. 8 stellt die Erzstatue
eines ruhenden jünglings dar, der durch die Flügelschuhe als
Hermes, der Götterbote, bezeichnet ist. Als solcher fuhrt
Hermes meist auch einen Heroldstab; die Flügel, welche seine
Schnelligkeit andeuten, finden sich sonst auch am Kopfe oder
am Hute. In der Regel erscheint er leicht gekleidet, zu-
weilen auch nackt, wie hier. Der Körper des Boten Hermes
ist jugendlich und zeigt gymnastische Ausbildung. Auf einer
seiner Fahrten begriffen, hat er sich zu kurzer Rast auf einem
Felsblock niedergelassen und sitzt bequem vornübergeneigt.
Aber seine Haltung ist ganz anders als die des sitzenden Ares.
Wir sehen es ihm an, dafs seines Bleibens nicht lange mehr sein
wird: schon hat er den rechten Arm aufgestützt, um sich
wieder zu erheben, er lugt mit seinen klugen Augen hinaus
in die Ferne wie nach dem Ziele, das er erstrebt. Im näch-
sten Augenblick wird er, wie er es mit dem linken Beine
schon gethan, auch das rechte Bein anziehen und dann sich
wieder erheben, um seine luftige Strafse weiter zu durch-
schweben. Dafs er das Gehen ganz verschmäht, hat der
Künstler angedeutet. indem er das Riemenwerk, welches die
Flügel festhält, unter der Sohle mit einer Rosette schmückte, die
das Auftreten unmöglich macht. In der auf dem rechten Knie
ruhenden linken Hand hält unser Hermes ein Stückchen eines
Stabes, wohl des Heroldstabes, den er ausruhend nachlässig
nach unten sinken liefs. Die Behandlung des Haares sowohl
wie des ganzen jugendlichen, elastischen Körpers erinnert an
Lysippos, freilich soll ein grofser Teil des Kopfes ergänzt
sein.
Tyche von Antiocheia. Ein Bild ganz anderer Art ist
Taf. 21, Fig. 9. Ein mit Chiton und Mantel bekleidetes
Weib sitzt in anmutiger Lässigkeit auf einem Felsen; vor ihr
erhebt sich zur Hälfte aus den Fluten ein Jüngling mit aus-
gestreckten Armen (der rechte ist ergänzt). Die lvfauerkrone
auf dem Kopfe des Weibes belehrt uns, dafs wir eine städtifche
Schutzgöttin Tyche vor uns haben, und aus Abbildungen
auf Münzen erfahren wir, dafs es die Stadtgöttin von Antiocheia
am Orontes in Syrien ist. Der Fels, auf dem sie sitzt, be-
deutet wohl das Ufer des Flusses, an dem die Stadt liegt.
Der Jüngling zu ihren Füfsen ist der aus den Wellen empor-
tauchende Flufsgott Orontes. Sie hat das rechte Bein auf die
rechte Schulter des Orontes gestellt und stützt sich mit dem
rechten Ellenbogen auf dasselbe. Die Ahren in der rechten
Hand bedeuten die Fruchtbarkeit des Landes, welche die
Göttin verleiht. Um gegen die hervorgehobene rechte Seite
ein Gegengewicht zu schaffen, ragt der Fels, auf den sie seit-