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Die griechische Kunst.
Wunderbar scheint es, dafs uns beim Anblick solch einer
Schreckensscene nicht Entsetzen oder Abscheu überkommt;
vielmehr empfinden wir Mitleid und Furcht wie bei einer ge-
waltigen Tragödie. Nicht körperliches Leiden, nicht sich
krümmenden Schmerz, nicht Wehruf und Angstgeschrei zeigt
uns der Künstler, sondern heldenhaftes Erliegen gegenüber der
frevelnd herausgeforderten höheren, unversöhnlichen Macht.
Nur wer stark genug ist, ungebeugt seines Frevels Strafe zu
ertragen, läfst uns glauben, dafs er den Göttern zu trotzen
gewagt hat. Aber unser Mitgefühl mit den Niobiden wird
nicht zum Abscheu gegen die rächenden Götter, da diese, den
menschlichen Augen entrückt, ihr Strafamt vollziehen. Um
die Scene lebendiger zu machen und lästige Gleichmäßigkeit
zu vermeiden, ist angenommen, dafs dieselben von verschie-
denen Stellen aus ohne Wahl ihre Pfeile entsenden, die in
ihrer Bahn sich kreuzen. Mag man die Gruppe anordnen,
wie man will, niemals sehen die Gestalten nach derselben
Stelle, noch auch etwa sämtliche Mädchen nach der einen,
sämtliche Jünglinge nach einer anderen. Neben der Sorge
fürs eigene Leben ist auch Fürsorge für andere ungesucht
zum Ausdruck gebracht; die Mutter ist bemüht, das Kind zu
decken, der Bruder erbarmt sich der Schwester, der Pädagog
schützt seinen Pilegling; so sind wieder kleinere Gruppen inner-
halb des Ganzen gebildet, die der Einförmigkeit entgegen-
wirken. Etwas rätselhaft sind die Basen der einzelnen Statuen,
die teils mehr, teils weniger Felsstücke zeigen. Das verhin-
dert an eine Aufstellung der Statuen in einem Tempelgiebel
zu denken. Wie soll man sich die Aufstellung sonst vorstellen?
Für eine pyramidale Anordnung spricht die verschiedene Höhe
der Figuren, deren niedrigste sicher auf die äufsersten Flügel
gehören. Vielleicht haben wir hier ein Muster einer frei
stehenden Gruppe, die sich in ihrer Anordnung einer Giebel-
gruppe einigermafsen näherte.
Wer der Künstler ist, auf den diese Gruppe zurückgeht,
das wissen wir nicht; auch schon im alten Rom wufste man
es nicht, wo ums Jahr 30 v. Chr. ein von Sosius gegründeter
Apollotempel mit der Niobidengruppe geschmückt wurde.
Nur soviel steht fest: Skopas oder Praxiteles ist der Meister.
Bedeutsam ist es für den Geist der damaligen Kunst, dafs beide
Künstler, S0 verschieden sie auch gewesen sind, doch soweit
in deT Erfindung und Gestaltung idealer Werke übereinstimm-
Ien, dafS allßh jetzt noch eine Entscheidung nicht getroffen
werden kann, wenn man sich auch mehr dem Praxiteles zu-
neigtüö). Dafs das Original an Schönheit weit über der Flo-
rentiner Gruppe stand, beweist die Taf. 19, Fig. 3 mit-