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Die griechische Kunst.
blicken, man wollte es sich näher gebracht sehen, sich, seine
Leidenschaften und Empfindungen in ihm wiedergespiegelt
finden. Dafs diese neuen Bedingungen, unter denen die
Kunst sich fortentwickelte, manchen bis dahin verborgenen
Keim zu ungeahnter Blüte sich entfalten liefsen, ist natürlich.
Ja, man kann sagen, dafs erst jetzt, nachdem die alten her-
gebrachten Schranken niedergerissen waren, in welche Reli-
gion, Gesetz und Gewohnheit so lange die Griechen einge-
schlossen hatten, dafs erst jetzt der Einzelne sich all der
reichen Anlagen, die in ihm schlummerten, bewufst wurde
und sie ausbildete; nur dafs neben all dem Schönen und
Guten, was die Neuzeit brachte, auch mancher giftige Keim
üppig mit emporwucherte. Wir werden sehen, wie die neue
Geistesrichtung ihren Einilufs auf Architektur und Skulptur
allmählich geltend machte.
Eirene mit dem Plutoskinde. Taf. 19, Fig. 1 zeigt
eine zwar jugendliche, aber matronale Frau, die durch das
(wohl richtig ergänzte) Scepter in der rechten Hand als
Göttin bezeichnet ist, mit einem Kinde auf dem linken
Arme. Was das Bild darstellen soll, ist erst in neuester
Zeit, wohl mit Sicherheit, ergründet worden. Im Jahre 375
hatte Athen, das nach schweren Leiden wieder zu einer Grofs-
macht emporgestiegen war, durch die geschickte Politik und
das Feldherrntalent von Konons Sohn Tirnotheos in .den ioni-
sehen Gewässern bei Leukas einen Seesieg über die Spar-
taner davongetragen, der zwischen beiden Staaten einen
Frieden, allerdings von nicht langer Dauer, herbeiführte. Zu
Ehren dieses Friedens wurde in Athen der Kult der Friedens-
göttin, der Eirene, neugestiftet. Diese war bis dahin schon
als eine der drei (oder vier) Horen, der Töchter der Themis,
verehrt worden, welche den Wechsel der Jahreszeiten vor-
stellen. jetzt wurde ihr ein Standbild errichtet, wie es scheint
im Freien, auf der Agora; und zwar war sie nach dem
Zeugnis des Pausanias dargestellt, wie sie den kleinen Plutos,
den Sohn der Demeter, den Gott des Reichtums, trägt. Es
sollte also der Gedanke ausgedrückt werden, dafs der Friede
den Reichtum schützt und bewahrt. Von diesem Bilde, das
der Künstler KeQhiÄQQQLQS vermutlich in Erz gefertigt hatte,
haben wir Taf 19, Fig. 1 wohl eine Nachahmung in Marmor vor
uns. Nur ist zu bemerken, dafs der Kopf des Kindes nicht ur-
sprünglich hierher gehört, und dafs der Krug, den der Kleine in
der Münchener Statue hält, falsch ergänzt ist, dafs vielmehr
der Phltos, Wie auf unserm Bilde, im linken Arm ein Füll-
horn, sein gewöhnliches Abzeichen, trug"). Das feierliche,
überlebensgrofse Bild der Göttin ist mit einem Doppelchiton