Kap. 4. Bis zum Tode Alexanders des Grofsen. 115
Wirklichkeit entnommen sein oder blofs in der Vorstellung
existieren. Die Kunstfertigkeit hat sich in dieser Periode so
gesteigert, dafs auch die kühnsten und kraftvollsten Be-
wegungen naturgetreu dargestellt werden können; aber die
Leidenschaft wird meist zu einem schönen Mafse abgeklärt;
Daher bewahrt das Gesicht, dem die Starrheit des alten Stiles
benommen ist, zwar immerhin noch einen gewissen Ernst,
ohne aber in Widerspruch zu der dargestellten Handlung zu
geraten. Nur die zuletzt betrachteten Skulpturen, die abseits
von der Hauptstätte der Kunstiibung entstanden sind, zeigen
diese mafsvolle Haltung nicht, sondern stellen das wilde Toben
der Leidenschaften greller dar. Sie sind in ihrer Art nicht
ganz vereinzelt und lassen ahnen, nach welcher Seite hin in
der folgenden Periode die Kunst sich entwickeln wird.
VIERTES KAPITEL.
Die griechische Kunst vom Ende des peloponnesischen
Krieges bis zum Tode Alexanders des Grofsen.
Der peloponnesische Krieg hatte die Gemüter in ganz
Griechenland tief aufgeregt. Die Zeit beschaulicher Ruhe
und frohen Genusses war dahin, man hatte sich gewöhnt,
hastig den Augenblick auszunutzen, der ja in den unberechen-
baren Wechselfällen des Krieges so rasch entrann. Die Men-
Schen waren in blutiger Schlacht und in erbitterten Partei-
fehden an den Sturm der Leidenschaft, an wilden Trotz, an
grimmen Hafs gewöhnt worden; das edle Mafshalten wufste
man nicht zu wahren, weder in den Pjmpnndungen und Be-
gehrungen, noch in den Lebensgewohnheiten. Mit den ein-
fachen Verhältnissen der früheren Zeit begann auch der
Glaube an das gnädige Walten der ewigen Götter zu schwin-
rlen; nicht mehr schaute man wie einst in frommer Scheu
zu den gerechten Lenkern des Weltalls__ empor, dem Genug
fröhnte man und dem Sinnenreiz, der Uppigkeit und Prunk-
sucht. An Stelle des Patriotismus und der Opferfreudigkeit
trat vielfach Selbstsucht und rücksichtsloses Streben nach Er-
werb. Aber der Kern des griechiSChCn VOIkeS war zu edel,
als dafs es trotz vieler Verirrungen einzelner sofort hätte dem
Untergange verfallen können, und gerade das Wohlgefallen
am Schönen ist ein Zug, der sich auch in dieser Zeit erhält
und vor Entartung lange bewahrt. Nur wollte man das
Schöne nicht mehr in so erhabener Hoheit über sich er-
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