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Die griechische Kunst.
geführt, während er in der Linken wohl einen Rebzweig mit
einer Traube hielt. Bequem sind die (nicht ganz erhaltenen)
Beine ausgestreckt, so dafs sie sich unten fast kreuzen.
Der Kopf ist leider auch bei dieser best erhaltenen Gestalt
zerstört, doch läfst sich die natürliche Haltung desselben und
die edle Form leicht erkennen. Um sich recht bewufst zu
werden, wie schön dieser Körper ist, halte man die Agineten
dagegen. Dort ist noch ängstliche Wiedergabe der durch Be-
obachtung gefundenen Regel, hier ungesuchte Natürlichkeit und
Mannigfaltigkeit. Indem der Körper mehr auf die linke Seite
gestützt ist, wird eine verschiedene Behandlung der beiden
Teile der Brust ermöglicht; Zugleich kann uns diese in halber
Vorderansicht gezeigt werden, während das Gesicht wieder
durch leise Wendung des Halses fast in das Profil zurücktritt.
S0 bekommt der edle Körper den Schein wirklichen Lebens.
Die Herrlichkeit dieses Götterjünglings begeisterte den be-
rühmten Bildhauer Dannecker, der diese und eine andere
Statue aus den Giebelfeldern des Parthenon in Gipsabgufs be-
safs, in so hohem Grade, dafs er an den grofsen Philologen
Welcker schrieb: „Diese beiden haben mich so ergriffen, dal's
ich sagen miifs, für mich ist es das Höchste, was ich je in
der ganzen Kunst gesehen habe. Sie sind wie auf Natur ge-
formt, und doch habe ich nie das Glück gehabt, solche Na-
turen zu sehen".
Nicht minder lebenswahr ist eine Gruppe von zwei weib-
lichen Figuren auf der rechten Hälfte dieses Giebels (Taf. 15,
Fig. 3), zu denen nach links hin noch eine dritte gehört.
Man deutet sie jetzt als die drei Moiren") oder Schicksals-
göttinnen, „die gemeinsamen Spinnerinnen des hier begin-
nenden Lebensfadens". Ist aber der Name derselben auch
unsicher, soviel erhellt aus der Art ihrer Vereinigung, dafs
wir in Liebe verbundene Schwestern vor uns haben. Die
eine der zwei Frauen sitzt, die andere ist so hingelagert, dafs
sie sich mit ihrem rechten Arm in den Schofs der Schwester
stützt. Auch ihnen fehlen, wie den meisten dieser Überreste,
die Köpfe, doch ist der Kopf auch in dieser Periode der
Kunst nicht so bedeutsam für die ganze Figur, dal's sie ohne
denselben unverständlich würde. Die sitzende Frau hat die
Beine angezogen und beugt den Oberkörper etwas nach vorn,
wie es jemand thut, der sich vom Sitze erheben will. Eben
ist die Kunde von der Geburt der Athene durch die von der
Mitte heraneilende Botin gebracht worden: überrascht will sie
daher aufstehen, wird aber noch durch die auf sie gestützte
Gefährtin niedergehalten. Diese hat die Kunde noch nicht
vernommen, noch lagert sie ungestört dahingestreckt, mit be-