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ausserhalb des Künstlers ist oder, um es besser
Zu sagen, eine ideale Vollkommenheit, zu welcher
ieder hinneigt und die jeder mehr oder weniger
erreicht. Mithin giebt es einen gemeinsamen Mass_
Stab, er ist dies Schöne selbst. Man wendet ihn
auf jedes vollbrachte Werk an, und je nachdem das
Werk sich dem Massstab nähert oder sich von ihm
entfernt, ist ihm mehr oder weniger Verdienst zu-
zuschreiben. Die Umstände haben gewollt, dass
man als Normalmass das griechische Schöne wählte,
dergestalt, dass die über alle von der Menschheit
geschaffenen Kunstwerke abgegebenen Urteile von
der mehr oder minder grossen Ähnlichkeit dieser
Werke mit den griechischen ausgehen.
So wird die weite Produktion des menschlichen
Genius, der in ständigem Gebären ist, einfach
darauf beschränkt, aus dem Ei des griechischen
Genius herauszukriehen. Die Künstler Griechen-
lands fanden das absolut Schöne und damit war
alles gesagt; der Massstab war festgesetzt und es
konnte sich nur noch darum handeln, nachzuahmen
und die Modelle so exakt als möglich zu wieder-
holen. Und es giebt Leute, dieLeuCh beweisen,
dass die Künstler der Renaissance aus keinem
andern Grunde gross waren, als weil sie Nachahmer
Waren. Während eines Zeitraumes von über zwei-
tausend Jahren bildet die Welt sich um, Civilisationen
kommen und gehen, Gesellschaften eilen reissend
vorwärts oder schlafen gemächlich ein, von Sitten
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