Reizende.
Das
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heit ins Erhabene hinüber. Naturgemäss sucht und verlangt darum
auch der Mann das Reizende bei der Frau. Andererseits muss die
Frau im Manne etwas Erhabenes finden, oder sie wird sich auf die
Dauer nicht von ihm gefesselt fühlen. Das blos Reizende wird ihr bei
ihm nur auf kurze Zeit gefallen; es stellt ihn auf eine Stufe, die sie
selber einnimmt und auf welcher sie leichtlich Siegerin bleibt. Sie
fühlt also keine Ergänzung zu der höheren Harmonie, welche Mann
und Weib in ihrer Vereinigung darzustellen haben, kann also nimmer
die rechte Befriedigung empfinden.
In feiner ilVillkürlichkeit offenbart sich wohl, wie gezeigt, das
Reizende. Diese Willkür darf sich jedoch nicht sclirankenlos zeigen,
wodurch sie ins Hässliche fallen würde; darf auch den Stempel. der
Absicht nicht deutlich an der Stirn tragen, wodurch sie maskenhaft
crschiene. Sie braucht nicht im eigentlichsten Sinne des Wortes „naiv"
zu sein, so dass sie nicht weiss, was sie thut, sondern kann auch in
einem gewissen absichtlichen "Gehenlassen" sich reizend zeigen; nur
darf eben die Absicht nicht durchschlagen. Letzteres zeigt sich iu
der Coquetteric, die ausser in wirklichen gröberen Anreizungen zum
grössten Theil in bewusster Willkür besteht. Soll ich hinzufügen, dass
sie homöopathisch durch gesteigerte Willkür oder allopathisch durch
uuabänderliche Strenge zu behandeln ist?
Die Vorneigung zum Reizenden bleibt übrigens stets ein gewisses
Zeichen der Schwäche einer Zeit. Ein Nachlassen der Kraft wird
dadurch verkündet.
Tiefer als das Reizende, wie schon gesagt wurde, liegt das Nied-
liche, Gefallige mit all den verwandten Begriffen. Hier stehen wir
ohne Weiteres über dem gefälligen oder niedlichen Gegenstands. Noch
immer waltet darin eine gewisse Schönheit; es bietet daher die haupt-
sächlichdte Klasse der wohlgefälligen Empfindungen für Alle, deren
eigenes Maass des Schönen ein sehr geringes ist. Wenn wir uns des
Ausdrucks bedienen dürfen, so sind es gerade die unteren Stände, die
ungebildet aber doch schönheitsbedürftig, an dem Gefälligen und wie
sich oft so sonderbar zeigt, am blos Niedlichen ihr vollstes Wohl-
gefallen finden, während die gebildeteren Mittelstände darüber hinweg
zum Reizenden streben und erst darin volles Genügen haben. Höchst
drollig kann diese Vorliebe für das Niedliche bei Neigungen des Her-
zens zu Tage treten, wenn, wie häufig geschieht, ein Bär von einem
Manne kein höheres ldeal kennt, als ein kleines, niedliches, schnippi-
ges Ding von einem Mädchen.
Was höher als das Reizende zum Schönen hinüberführt, möchte
ich das "Liebliche, in der Bedeutung des Llebeerweckenden, nennen,
Es zeigt sich gesetzmässiger, als das Reizende, wird darum auch dem
(larin waltenden willkürlichen, Beweglichen mehr entzogen und zu der
höhirren harmonischen Ruhe des Schönen gerückt. Mit dem Lieblichen