Das
Characteristischä.
Der
Stil.
53
Es kommt in solchem Fall Alles auf die ästhetische Kraft des
Künstlers an, auf die Stärke, Reinheit, man könnte sagen, Heilig-
keit seines künstlerischen Simfs, aus dem das Werk gezeugt und
geboren wird. Der Meister kann ein edles Meisterstück in Dcmjenigen
zeigen, welches uns von einem Stümper behandelt, frech, schamlos, ab-
scheulich erscheint. Gerade hier zeigt sich die Vernichtung des Stoffs
durch die Form, wie man das reine Verarbeiten in die ästhetische Er-
scheinung genannt hat, in _grossartigster Weise.
Uebrigeus sei hier bemerkt, dass es mit der Trennung des Aesthe-
tiseheu und Ethischen zwar besser steht als früher, dass z. B. bei einer
sogenannten grossen Tragödie das Publicum sich gemeiniglich von dem
Fehler fern hält, in die moralische Beurtheilung zu verfallen, dass es
aber in nur zu vielen Fallen noch an dem richtigen Standpunkte zu-
fehlen pflegt. Schillefs Räuber werden nicht mehr als eine misse-
thäterische Ausgeburt verdammt, der Streit über Göthe's Elegien und
Wahlverwandschaften ist eingeschlummert, aber man braucht nur an
die Darstellung des Nackten in der Plastik u. s. w. zu erinnern, um all'
die Unschliissigkeit des Urtheils vor Augen zu haben und den Kampf,
den, vielfach in belachenswerther oder betrübender Weise, der so-
genannte ethische Standpunkt mit Hosenlatzmalerei, Feigenblättern und
dergleichen gegen das Aesthetisch-Treffliche führt. Doch sei nicht
vergessen, dass das Aesthetische allein so wenig überall Recht. hat
als das Ethische allein, und jedes an seinen Ort zu stellen ist. Auf
die Folgen einseitiger Anschauung wurde schon im zweiten Gapitel
verwiesen.
Greifen wir auf die Bedeutung des Characteristischen zurück. Es
ist wohlgefällig. Im Allgemeinen nennen wir den characteristischen Aus-
druck des Wesens Stil. Jemand hat Stil oder keinen Stil, heisst, er
hat charactcristischen Ausdruck oder nicht. Dasselbe gilt für jede Er-
scheinung, also auch für jeden Stoff. Der characteristische Ausdruck
für das Feste verlangt also, dass auch in der Erscheinung der Eindruck
des Festen gemacht wird. Das Leichte soll leicht erscheinen, das Starke
stark u. s. w. Das Wesen soll rein zu Tage treten. Daher gefallt uns
z. B. nicht der Mann, der weibisch ist, das Weib, das männisch, das
Kind, welches altklug wie ein Erwachsener, eine thränensüchtige Jugend,
denn Lebendigkeit, Frische, Freudigkeit erscheint als Wesentliches der
Jugend. Das Flüssige soll nicht stocken (schlammiges Wasser); das
Ruhige, unruhig aufgeregt, erscheint krankhaft, fieberhaft, disharmo-
nisch; der Starke darf nicht feig sein u. s. w. Den Grundbegriffen
des Characters muss die Erscheinung entsprechen oder sie wird miss-
fällig. Daraus ist ersichtlich, welches Eindringen, bewusst oder unbe-
wusst, in die Tiefen des Wesens für den Künstler oder für den nach
Erkenntniss und begründetem Urtheil strebenden Betrachter der Er-
scheinungen nothwendig ist.