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Die Dichtkunst.
Erzählung liegt zum Grunde; von Darstellung des Epischen nimmt es
seinen Anfang.
Bei diesen Darstellungen drängte die Menge theilnehmend hinzu;
nicht ein, zwei, danp drei Schauspieler, sondern zwanzig, dreissig, hundert
und hunderte wollten agircn. S0 ging Alles in die BreiterDas Spiel
dauerte einen Tag, mehrere Tage, wurde durch Episoden bereichert.
Der Geist der Laune ist in Massen nicht zurüekzudrängen. Schwank, Un-
sinn, Witz, Satire und auch das niedrig-sinnliche, obscöne Element
haben immer ihre Vertreter; seit Heidenzeiten her zeigen das auch bei
uns die Männer, halb Sänger, halb Schauspieler; Lustigmacher, Tän-
zer, Geigenspieler, Zauberkünstler, Seiltänzer u. s. w. in einer Person.
Der Volkshumor und seine dramatische Art, von dem vielleicht schon
in der Edda einige Dichtungen als humoristische dramatische Stücke
Kunde geben, als älteste Vorläufer der späteren Fastnachtspiele,
drängt sich in das geistliche Spiel. Die Teufel, die Händler der Sal-
ben u. s. w. werden ihm überlassen. Er überwuehert das ganze religiöse
Drama, dass die Kirche von Oben gegen das entgeistliehte Spiel ein-
schreiten muss. Aber die Freude am Schauspiel ist einmal da. Sie
lässt sich nicht hinwegdecretiren. In tollen Schwanken und rohen
Spässen vertobt sie leider bei uns zu sehr. Sich selbst überlassen, ver-
sinkt sie oft in unsagbare Roheit und Gemeinheit. Plumpere Obscöni-
täten, als z. B. in unseren mittelalterlichen Fastnachtspielen gesagt
wurden, sind nicht denkbar. Kein Genius fand sich bei uns, der die
dramatischen Elemente zusammenfasste. Die Versuche, welche gemacht
wurden (Hans Saehs u. A.) blieben stecken.
Anders aber in einem andern germanischen Volke. Die Reforma-
tion ist gekommen und hat von den grossen Mysterien die Herzen des
Volks abgewandt. Der freiheitliche Drang des Individuums, die grös-
sere Selbständigkeit des Geistes, der sich von der Satzung und der
ausseren Busse losmacht, dafür nun aber alle Kämpfe des Innern (lurch-
zumachen hat und sich selbst befreien muss, machen sich geltend. Es
giebt Spaltung, innere Zerrissenheit aber damit Vertiefung, Selbst-
erkenntniss und psychologische Kenntniss überhaupt. Dieser geistige
Zustand ist dramatisch nicht, wie zu Euripides Zeit, durch die überlie-
ferten Formen behindert. Er hat keine Ueberlieferung der höchsten
Kunst zu Schranken. Er braucht nicht niederzureissen, er kann frei
beginnen. In Deutschland müht das Volk und mühen die Dichter sich
vergebens ab, um den Ausdruck für den neuen dramatischen Geist Zll
finden. Gelehrsamkeit und bürgerliche Beschränkung hindern den Auf-
schwung. Aber in dem lustigen Alt-England, da greifen die Spieler,
nachdem ihnendie religiösen Stoffe genommen sind, frischweg in (len
Balladenreiehthum und suchen sich dort Stoff. Da braucht man nicht
durch die klugen und die thörichten Jungfrauen oder durch ein Oster-
Spiel die Menge anzuziehen, sondern sie drängt sich auch llerzu, wenn