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Dichtkunst.
Die
der zwanzig ihn angreifende Männer erschlägt, so ist das in der Phan-
tasie ein ganz ander Ding, als wenn wir die zwanzig Männer den Kampf
wirklich gegen einen aufführen sehen, der in seiner leibhaftigen Grösse,
Breite der Schultern u. s. w. vor uns steht und uns seine Fechtergeschick-
lichkeit zeigen soll. Es ist grosse Gefahr, dass uns solche Heldenthat
sehr spasshaft und wunderlich vorkomme. Alles, was uns aber stören
und an der Wahrheit des dramatisch Vorgeführtexi zweifeln lassen könnte,
hat der Dichter so viel möglich zu vermeiden. Aehnlich, wo es sich
etwa um eine überwältigende Schönheit handelt. Wir stellen uns das
Höchste von Schönheit unter der Helena des Homer vor, was wir nur
in unserer Phantasie zu ahnen vermögen. Wenn wir aber eine Helena
auf der Bühne erscheinen sehen, dann werden wir sogleich Kritik üben.
Möglicherweise hat sie eine aussergewöhnliche Schönheit als Vertreterin
gefunden, aber der Dichter wird sich niemals gänzlich darauf verlassen
können und begeht einen dramatischen Verstoss, wo er auf eine der-
artige Aussergewöhnlichkeit rechnet. Frei darf er nur die Kräfte ver-
wenden, bei denen wir ihn nicht so controliren können. Er wird also
darauf hingewiesen, sich mehr auf die innerlichen, somit hauptsächlich
auf die geistigen Eigenschaften, ihren Ausfluss und ihren Ausdruck in
der Erscheinung zu richten. Man sieht, wie wir auch hier wieder auf
den Character der Personen hingeführt werden, welche in dem Ausdruck
ihrer Empfindung, dann aber besonders im Ausdruck des Willens, der
auf ein Object sich richtet, darzustellen sind.
Aber woher nimmt der Dichter den Inhalt für das Drama? Das
Leben, das unübersehbare Menschenleben giebt ihm denselben. Von
den niederen Erscheinungen an, mit denen nur das Komische versöhnen
kann, bis hinauf zu den höchsten, zu übermenschlichen Bestrebungen,
in welchen der Mensch die Gottheit, die ganze Welt zu erfassen, zu er-
gründen sticht, worin sein Geist mit den ewigen, unerklärbaren Mächten
ringt. Hier taumelt der betrunkene Kesselüicker auf die Bühne. Dort
ist Prometheus! Der Titane am Kaukasus, von Kraft und Gewalt an-
geschmiedet, im Kampfe mit dem Herrscher der Götter und der Welt,
umwogt von den Okeaniden! Hier ist eine Kaifeegesellscliaft der In-
begriff aller Glückseligkeit, dort ist das Leben ein Traum! Hier
schreiten nüchterne Intriganten über die Bühne, denen das Nicken
eines Königs das Höchste ist, dort ringt Faust, der erkennen will, was
die Welt in ihrem Innersten zusammenhält, der getreue Knecht des
Ewigen, an den der Versucher herantritt, dass er das Weh der Erden
zu allen Geistesqualen erdulden muss. Hier spottet in grandioser Satire
ein Aristophanes, dort redet der weihevolle Sophokles. Hier ist die
Welt in einem Kaufmannsstübchen beschlossen, wo zwei neue Kunden
in der Woche ein Ereigniss sind, dort wird gewürfelt um Länder und
Reiche die hochiliegendsten Pläne werden in's Werk gesetzt; Deutsch-
land Wird Umfasst mit begehrenden Blicken, über Europa fliegen sie