Gleichgewicht.
Gegengewicht.
45
Nehmen wir das edle Pferd. Von vorn zeigt es Symmetrie; seit-
wärts muss es Gleichgewicht zeigen oder es ist nicht schön. Es theilt
sich, wo der Rücken vom Widerrist absetzt. Hier eine Senkrechte
hindurchgezogen, muss der Eindruck entstehen, dass das Ffordertheil
Kopf, Hals, Brust, Schultern, Vorderbeine dem übrigen TlIGIlO
glcichwiegt. Dabei fällt natürlich ein scharfer, knochiger Kopf, enrleb-
haftes, bedeutendes Auge ganz anders ins Gewicht, als ein tleisclnger,
schläfrig (lreinschauender. Ebenso die harten, festen Schultern. Ueber-
wiegt der Rumpf, so erscheint es, wie jedes Thier, mehr Bauchthier,
niedriger, plumper; ist Gleichgewicht vorhanden, so dass die edleren
Theile in gleicher Bedeutung hervortreten, so haben wir in diesem
Punkte Schönheit. Das Bedeutende darf auch noch überwiegen
Uebergang ins Erhabene doch natürlich nur in bedingter Weise.
Ein Uebermaass wird unnatürlich, Caricatur, hässlich. Was unser Bei-
spiel, das Pferd, betrifft, so verwirft der Araber das Ross, bei dem
nicht die Länge von der Schnauze über den Kopf und Hals bis zum
YViderrist so lang ist, wie von dort bis zum Schwanzwurzel-Ende. Er
verlangt von einem guten Renner noch etwas Uebermaass des Vor-
dertheils.
Wie bedeutend dieses Gesetz sich beim Löwen und anderen
Thieren zeigt, werden wir sehen.
Oft fällt bei Itormen, die nur den Trieb nach vorwärts aus-
drücken, kein Verweilen bezeichnen, dieses Gegengewicht weg. Dann
überwiegt der vordere Theil. Häufig hilft hier aber die Natur dennoch
durch ein ästhetisches Gegengewicht. S0 unter Andern vielfach bei
den Vögeln, wo der Federschwanz diesen Dienst leistet. Er wiegt
hier gegen den schräg aufwärts gerichteten Körper. Zu lang macht
er den Vogel schleppend; zu kurz, haben wir stets einen mehr oder
minder possirlichen Eindruck. In ausgezeichneter Weise fast sym-
metrisch in der Seitenansicht entfaltet sich der Schwanz des Hahns
als ästhetisches Gegengewicht, den Hühncrherrsclier dadurch freilich
besonders zum Standvogel machend. Achnlich haben wir das sitzende
Eichhörnchen, das mit Körper und buschigem Schwanz lyraähnlieh
erscheint; hübsch in dieser Stellung, possirlich durch die lange
Fahne beim Laufen.
Für die Architet-tur ist das Gesetz des Gleiclr- und Gegengewichte:
leicht zu erkennen. Ich will an einen Mittelbau mit Flügeln erinnern.
Wenn das Mittelgcbäude nicht seinen Flügeln durch Grösse und Bedeu-
tung (Höhe, Schmuck etc.) das Gleichgewicht hält, so bricht der Bau
auseinander oder macht doch keinen ästhetisch-erfreulichen Eindruck.
Ebenso scharf tritt das Gesetz auf in der Seitenansicht. Man denke
an die gothische Kirche. Hier haben wir Thurm und Langhaus. Der
Thurm hat dabei das Gegengewicht gegen das Gebäude zu leisten,
ähnlich wie bei der Thieransicht von der Seite. Bleibt er hinter dem