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Die Dichtkunst.
eine einheitliche Handlung nicht an einem beliebigen Punkte abgebrochen
werden, sondern ist in einem Zusammenhange vorzuführen. Dass der
Zuhörer auch am Ende noch keine Ermüdung verspüren darf, indem
sonst dem letzten Theile des in der Zeit sich abspinuenden Werkes
grosser Schaden zugefügt würde, ist leicht einzusehen. Dass aber inner-
halb der ihm zugemessenen Zeit der Dichter die Handlung derartig
muss ausführen können, dass nirgends für uns darin Lücken vorhanden
sind und sie uns vollständig in ihrem inneren Zusammenhange klar ge-
worden ist, versteht sich ebenso. Danach hat er also wiederum seinen
Stoff zu wählen und zu behandeln. Er kann keine Handlung zum Vor-
wurfe für sein Drama brauchen, welche acht Stunden ununterbrochener
Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen würde, während die Zuschauer
nach vier Stunden sich ermüdet fühlen. In diesem Falle wäre er ge-
nöthigt, den Stoff aufzugeben oder womöglich das Ganze in zwei
grosse Theile zu zerlegen, deren jeder aber Selbständigkeit haben
müsste; oder um die Zuschauer nicht bis auf den äussersten Grad an-
zuspannen, würde er, wenn möglich, eine Dreizahl daraus bilden (Tri-
logie), so dass längere Pausen zwischen den einzelnen Abtheilrlngeil
Ruhepunkte gäben. In unseren Aeteinschnitten haben "wir im Kleinen
dasselbe Princip, was wir etwa bei Trilogien, die über einen ganzen
Tag oder über mehrere Tage dauern, im grösseren Maassstabe ange-
wendet finden.
Wesen und Erscheinung müssen einander entsprechen. Die innere
Wahrheit des Inhalts, die Schönheit des Ausdrucks gelten hier wie in
allen Kunstwerken. Sprache also, Form u. s. w. hat zum Inhalte zu
stimmen und demselben nach allen Anforderungen des Schönen Aus-
druck zu geben, vom Deutlichen, Richtigen an bis zu den Forderungen
höchster Art.
Was die kunstgeniässe Bildung der Sprache im Drama betriift, so
ist über einige ihrer Formen schon gehandelt werden. In Zeiten, wo
die Formen verknöchert sind, sehen wir den Künstler ihre Schranken
durchbrechen; Ungebundenheit wird gegen die Starrheit gesetzt, bis all-
mälig eine neue schöne Form wieder gewonnen wird. S0 sahen wir in
der Zeit, wo die dramatische Sprache dem starren Zwange verfallen war
und sich im steifen Alexandrinei- dahinquälte, von den kühnen N euerern,
welche eine neue Zeit heraufführen sollten, den Vers gänzlich bei Seite
geworfen. Die Ordnung des Dramas, sein Aufbau, seine Gliederung in
Acte und Scenen galt für hinreichend, um das Kunstwerk erkennen zu
lassen. Innerhalb dieser grösseren Ordnung keine andere mehr! Frei,
natürlich sollte die Rede sich ergehen. Diese Charaktere, Welche den
Formalismus, die Versteifung und Verzopfung des Lebens bekämpften,
sollten nicht in einer gemachten Sprache sprechen, wofür man die Verse
anzusehen gewohnt war, welche von Versmachern solange Zeit geschmie-
det, nicht von Dichtern gedichtet waren. Lessings Sara Sampson, Minna