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Dichtkunst.
Die
„Denn es kann eine Tragödie ohne Handlung nicht geben, wohl aber
ohne individuelle Charactere . . . Wenn Jemand in Einem fort character-
schildernde Reden und wohl geschaffene Gespräche und geistreiche Ge-
danken vortragen wollte, so wird er doch nicht das hervorbringen, was
die Wirkung der Tragödie sein sollte, vielmehr wird dazu weit eher eine
Trztgödie im Stande sein, in welcher diese Stücke zwar weit unvoll-
kommener sind, die aber eine rechte Fabel und Verknüpfung der That-
saehen dar-bietet."
Damit nun aber die Verknüpfung der Thatsachen, welche, um wie-
der mit Aristoteles zu reden, im Drama die Handlung und ein Leben
und Glück und Unglück bilden, eine richtige und richtig zu erkennende
sei, ist nöthig, dass die Charactere der handelnden Personen richtig und
entsprechend seien. Die grösste Oharacterkenntniss wird also vom
Dramatiker erfordert und die Fähigkeit der schärfsten Characterzeich-
nung durch die Reden und durch die Handlung im Allgemeinen. Was
weder auf die Handlung Bezug hat, noch für die Characteristik einer
Persönlichkeit von Wichtigkeit ist, ist im Drama ein überflüssiges Bei-
Werk, von dem jedes Kunstwerk und damit auch das Drama sich frei-
zuhalten hat. Dass damit nicht jede poetische Arabeske unter allen
Umständen verbannt werden soll, braucht nicht bemerkt zu werden. Im
Munde einer launigen Persönlichkeit kann ein heiteres Abschweifen, im
Munde eines Weisen können z. B. Sentenzen, die für Andere unpassend
wären, die Wahrheit der Kunst erhöhen und sind dann als charac-
teristisch an ihrem Platze.
Das Drama ist also eine durch handelnde Personen sich gestaltende
(werdende) Handlung. Als Kunstwerk verlangt es Einheit in der Man-
nigfaltigkeit, Ganzheit, das rechte Maass der Bedeutung und Grösse,
Freiheit in der Ordnung, innere Gesetzmassigkeit u. s. w. Was die
Ganzheit und den Umfang betrifft, so folgen wir wieder der Poetik des
Aristoteles (Cap. 7): „Denn es kann etwas ein Ganzes sein und doch
eines bestimmten Umfangs ermangeln. Ein Ganzes ist nämlich etwas,
das Anfang, Mitte und Ende hat. Anfang ist dasjenige, was an und für
sich nicht nothwendig ein Vorhergehendes voraussetzt, nach welchem
aber seiner Natur nach ein Andres sein oder werden muss. Ende aber
ist umgekehrt dasjenige, was an und für sich die Folge eines Vorher-
gehenden sein muss, entweder mit Nothwendigkeit oder nach dem ge-
wöhnlichen Lauf der Dinge, auf was aber weiter nichts folgt. Mitte
dagegen ist das, was selber Folge eines Vorhergehenden, und wovon
Anderes wiederum eine Folge ist. Eine gut angelegte Fabel darf daher
weder von jedem beliebigen Punkte anfangen, noch bei jedem beliebigen
Punkte endigen, sondern sie muss nach den eben bemerkten Begriffen
eingerichtet sein. Und da ferner jedes Schöne, sei es nun eine gemalte
Figur oder irgend ein anderer Gegenstand, das aus mehreren Theilen
besteht: in diesen letzteren nicht nur eine gehörige Anordnung darbieten