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Dichtkunst.
Die
seines Lebens, die Hoheit oder Anmuth, vielleicht auch die anmuthige
Hoheit, die ihm von Natur verliehen war. Ich kann übrigens recht gut
bemerken, auf wen ich in dieser Art gewirkt; es entspringt daraus ge-
wissermaassen eine Naturdichtung, und nur auf diese Art ist es möglich
Original zu sein. Glücklicher Weise steht unsere Poesie im Technischen
so hoch, das Verdienst eines würdigen Gehalts liegt so klar am Tage,
dass wir wundersam erfreuliche Erscheinungen auftreten sehen. Dieses
kann immer noch besser werden und niemand weiss, wohin es führen
mag, nur freilich muss jeder sich selbst kennen lernen, sich selbst zu
beurtheilen wissen, weil hier kein fremder äusserer Maassstab zu Hülfe
zu nehmen ist.
„Worauf aber alles ankommt, sei in Kurzem gesagt. Der junge
Dichter spreche nur aus, was lebt und fortwirkt, unter welcherlei Ge-
stalt es auch sein möge; er beseitige streng allen Widergeist, alles Miss-
wollen, Missreden, und was nur verneinen kann: denn dabei kommt
nichts heraus. Ich kann es meinen jungen Freunden nicht ernst genug
empfehlen, dass sie sich selbst beobachten müssen, auf dass bei einer
gewissen Facilität des rhythmischen Ausdrucks sie doch auch immer an
Gehalt mehr und mehr gewinnen. Poetischer Gehalt aber ist Gehalt des
eigenen Lebens; den kann uns niemand geben, vielleicht verdüstern,
aber nicht verkümmern. Alles, was Eitelkeit, d. h. Selbstgefalliges ohne
Fundament ist, wird schlimmer als jemals behandelt werden.
"Sich frei zu erklären ist eine grosse Anmassung: denn man er-
klärt zugleich, dass man sich selbst beherrschen wolle und wer vermag
das? Zu meinen Freunden, den jungen Dichtern, spreche ich hierüber
folgendermassen. Ihr habt jetzt eigentlich keine Norm, und die müsst
ihr euch selbst geben: fragt euch bei jedem Gedicht, ob es ein Erlebtes
enthalte und ob dies Erlebte euch gefördert habe? Ihr seid nicht ge-
fördert, wenn ihr eine Geliebte, die ihr durch Entfernung, Untreue, Tod
verloren habt, immerfort betrauert. Das ist gar nichts werth und wenn
ihr noch so viel Geschick und Talent dabei aufopfert.
„Man halte sich an's fortschreitende Leben, und prüfe sich bei Ge-
legenheiten: denn da beweist sich's im Augenblick, 0b wir lebendig
sind, und bei späterer Betrachtung,ob wir lebendig waren." (GötheV, 645.)
Was besondere Formen betrifft, so ist am bekanntesten die ita-
lienische Sonettform. Das Gedicht wird auf 14 Verse beschränkt, welche
sich den Reimen nach zu 8 und 6 theilen. Die strengste Form ergiebt
das Schema: abba, abba, cdc, dcd (2 Quadernarien oder Quatries
von 2 Reimen, und 2 Terzinen, bei denen die Reime aber wechseln-
der sein können, z. B. häufig cde, cde u. s.
Manche Dichter haben sich Freiheiten erlaubt. So z. B. bildet
Shakespeare seine Sonette der Regel nach so, dass die 12 ersten
Verse in 3 vierzeilige Strophen sich gliedern, und die beiden letzten im