Volltext: Populäre Aesthetik

Die Lyrik. 
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sichten sich dann wohl die verschiedenen Singartcn und nur das Beste 
bleibt stehen; oft aber kommt auch dabei das widersprecliendste Zeug 
zusammen, indem ganz verschiedene Reihen verschiedener Strophen und 
Dichter zusammengeworfen werden, so dass auch die kräftigste Pliaii- 
tasie keine Einheit in dem bunt und willkürlich durcheinander gewür- 
felten Gemisch findet. Nur durch Vergleichung der Varianten vermag 
man dann noch den eigentlichen Sinn zu finden. 
In der Blüthezeit unserer Poesie im Mittelalter sehen wir, wie bei 
den Griechen und Romanen das Bestreben, ganz bestimmte Formen für 
die Lyrik lierausziibildeii. Da man aber manche Formen willkürlich 
von den Fremden entlehnte, so behandelte man sie nun auch willkürlich, 
und es entstanden eine Menge Weisen, von denen oft die eine verzwickter 
als die andere war, namentlich seitdem das ehrsame Bürgerthum die 
Poesie handwerksmässig zu betreiben liebte. Ungeheuerliche Formbil- 
dungen wurden geschaffen. Nur diejenigen, welche am volksthümliclisten 
waren und sich am meisten dem alten epischen Sang anschlossen, sich 
z. B. aus dem Nibelungen-Vers entwickelten, erhielten sich. Diesen 
mangelte aber doch vielfach jene Formbestimmtheit, welche die Lyrik 
so liebt, um der inneren Bewegtheit gleichsam ein Gegengewicht zu 
geben. Als die Kunstpoesie im Anfang des 17. Jahrli. wieder erwachte, 
sah man sich hauptsächlich auf fremde Formen angewiesen und ahmte 
dieselben nach, wo man über die einfachen Verswechsel des gewöhn- 
lichen Liedes hinausgiiig. So pflegte man z. B. die Sonettform  die 
dann wieder zurückti-at, um erst in diesem Jahrhundert durch Rückert, 
Götlie, Platen u. A. zur neuen Geltung zu kommen. 
Es ist unmöglich, hier alle Gebiete der Volks-, wie der Knnstlyrik 
zu übersehen, geschweige die einzelnen naher zu betrachten, wie wichtig 
sie auch im Volksleben sein mögen (Kirchenlied, Gesellschaftslied, Ge- 
legenheitsgedicht u. s.  Dem Inhalte nach herrscht die ungebun- 
denste Freiheit; jede Empfindung, Alles, was durch irgend eine Stimmung 
lyrischen Wertli bekommt, ist ja wählbar; auch die Form ist für die 
echte Lyrik durch keine andere Bedingung eingeschränkt, als dass sie 
sangbar sein müsse. Einige häufiger gebrauchte fremde Formbildungen, 
welche zum Theile schon auf die didactische Lyrik verweisen, mögen 
hier noch ihre kurze Besprechung finden. 
Ein Wort unseres Altmeisters der Dichtung aber, des greisen 
Göthe, gebe zuvor noch den Abschluss und tretfliclie Lehre in Bezug 
auf Dichtung im Allgemeinen, besonders aber auf die Lyrik für den, 
welcher seine Worte zu erfassen strebt. 
Göthe sagt in: Noch einWort für junge Dichter, wie er den jungen 
Poeten gezeigt habe, dass wie der Mensch von innen heraus leben, der 
Künstler von innen heraus wirken müsse, indem er, geberde er sich, wie 
er wolle, immer nur sein Individuum zu Tage fördern werde. „Geht er 
dabei frisch und froh zu Werke, S0 manifestili 91' gewiss den Werth
	        
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