Lyrik.
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Wenden wir uns zum eigentlichen Lied, so gilt es auch hier, auf
den Unterschied des sogenannten Volksliedes und Kunstliedcs aufmerk-
sam zu machen; doch muss auf das beim Epos Gesagte zurückgewiesen
werden. Wenn der Dichter ein schönes Lied dichtet, welches nicht einer
besondern Culturstufe allein, sondern dem ganzen Volksleben entspricht,
es kann so hoch in Gedanken sein, wie es will, wenn dieselben nur
poetisch sind und wenn nur der Ausdruck kräftig und einfach-edel ist
so ist dies Kunstlied auch Volkslied; wenn ein Volkslied voll schön
sein soll und nicht romantisches Bruchstück, so muss Kunst sich darin
zeigen. Die Kluft zwischen unserer Volks- und unserer Kunstpoesie
besteht meistens darin, dass die, Kunstpoesie Standespoesie ist, die
Volkspoesic durch ihre innere Willkürlichkeit die Befriedigung ver-
missen lasst. Viele Lieder Göthes, mehrere von Uhland, Heine u. A.
zeigen, dass der Widerspruch kein unlöslicher ist. Gemeiniglich ver-
steht man unter Volkslied eine lyrische Weise, welche durch die Liebe
des Volkes getragen, von Mund zu Mund gehend, jedes dem allgemeinen
Volksgefühl Widersprechende abgestossen, durch Zu- und Umdichtung
aber das demselben Zusagende aufgenommen hat. Dadurch bekommt
es meistens den tiefsten, sinnigsten Gehalt; es wird der vollste lyrische
Ausdruck nach Jubel und Trauer, in Liebe und Wehmuth und Spott.
Sehr häufig erhält es aber auch etwas Springendes, ja Unverbundenes;
die Verse laufen neben einander her; einer stimmt wohl nur halb-
wegs zum andern. Aus einer Fülle wird beliebig zusammengesetzt.
(Man kann für ein Lied meistens mehrere Lesarten finden; manches
Gedicht, was vielleicht in einer Gegend dreistrophig gesungen wird, kann
in einer andern acht oder funfzehn Strophen haben. Das Volk redigirt
oft nicht minder willkürlich, wie es die Verfasser von: des Knaben
Wunderhorn zuweilen gethan haben.) Nun darf zwar die Lyrik nicht
einen streng logischen Gedankenztisammenhang zeigen wollen; aber sie
muss ihn doch besitzen und errathen lassen; mit dem überromantischen
Znsammen- und Durcheinanderwürfeln ist nirgends etwas gethan und
dürfen die Fehler vieler Volkslieder nicht für nachahmungswürdige Vor-
züge angesehen werden, wie dies Seitens mancher Romantiker geschah.
Das gute Volkslied aber wird immer der Ausgang wie das Ziel jedes
echten Liedes sein.
Wie aber es fassen, wie es nach allen seinen verschiedenen Rich-
tungen characterisirenl Was anders sagen, als dass es ganz Empfin-
dung ist, die sich in Anschauung umsetzt und wieder die Empfindung
so mächtig rührt! Dass es immer echt lyrisch, also ein Sang ist! Ich
denk', wir ziehen einmal mit wackeren Gesellen, die Kopf und Herz auf
dem rechten Fleck haben, ob ltliner drunter etwas zu gestehen hat
Mitten im Wald und auf der Halde, da singt er's dann schon, wennts
auch nicht immer klingt nach allen Regeln. Horch, es ist noch ein
junges verschämtes Blut-r