Die Lyrik.
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schaftlicher verschiedener Gefühle bekommen sollen. Je mehr Erzäh-
lung, desto länger kann die Elegie sein. Schiller lässt im Spaziergang
das Mannigfaltigste vor unsern Blicken vorüberziehn; so eine Welt uns
zeigend, kann er auch eine Welt von Empfindungen uns öffnen.
Wenn nun solche erzählende und zugleich subjectiv betrachtende
Dichtung auf Kürze angewiesen ist, so bildet sich das sogenannte
Epigramm, das ursprünglich durchaus nicht satirisch ist. Es heisst
„ Aufschrift" und war einfach bestimmt zur Aufschrift auf Weih-
gesohenke, Grabdenkmäler, sonstige Erinnerungstafeln; es galt einen
schönen, sinnvollen, gewichtigen Gedanken in der präcisesten Form aus-
zudrücken; je kürzer je besser. So ward es vielfach in ein Distichon
eingeschlossen; doch war eine solche Beschränkung nicht nothwendig.
Allmälig wurde das Epigramm allgemeiner angewandt; schliesslich spitzte
man häufig die Characteiistik des Inhalts zum Witz, zur geistreichen
Pointe, zur Satire. Als witziges, boshaftes Sinngedicht allein galt
es dann manchen Zeiten.
Schillefs Columbus, Johanniter, Sämann, Kaufmann n. s. w. sind
Epigramme im weiteren Sinne. Man sehe Göthds Epigramme. Als
Grabaufschrift stehe hier das berühmte Epigramm auf die Thermopylen-
kämpfer:
iVanderer, kommst Du nach Sparta, verkündige dorten, Du habcst
Uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl-
(Simonides).
Ein Weihepigramm:
Daphnis, weiss um die Brust, der lieblicher Syrinx entlockte
Klänge des I-Iirtengesangs, weihete dieses dem Pan:
Dies dreifache Geröhr, die gespitzete Lanze, den Krummstab,
Fell und Tasche, worin sonst er die Aepfel geführt.
(Theokrit nach Netter).
Für das scharfe Epigramm bedarf es keiner Beispiele.
Die Hymne, der Feiergesang auf die Gottheit, war ursprünglich
gleichfalls epischer Art. Die Geburt, Herrlichkeit, die Thaten des
Gottes wurden erzählt; sie sind der Erzählung entsprechend in Hexa-
metern gedichtet. Gerade der Hymnos aber sollte sich in reichster lyri-
scher Weise entwickeln. Die bewegtesten Formen, die Ode im weiteren
Sinne, der Dithyrambus gingen daraus hervor. Reichere Rhythmen
lösten den Hexameter ab; die Begeisterung, der Freudenruf, die Dankes-
innigkeit, die ilehende Bitte, der Siegesjubel all das fand hier seine
Stätte. Von dem Sang für die Gottheit löste sich allmälig das allge-
meinere Lied, durchweg aber als Ode auf seinen Ausgang hinweisend
durch den getragenen Stil des Ausdrucks lyrischer Empfindung. N11,-
die leichteren Lebelieder und Liebeslieder, z. B. die sogenannten Ana-
kreontischen, machen hievon eine Ausnahme. Schon das festere kunst-
Lcmcke, Aesthctik. 2. Aufl. 33