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Die Dichtkunst.
Gar bar lit wit walt kalt,
Snä wä tuot, gluot si bi mir.
Gras was ä, klö. spranc blanc
bluot guot schein: ein hac pflac
(Ganz baar liegt weit Wald kalt, Schnee weh thut, Gluth sei bei mir.
Gras war eh, Klee sprang blank, Blüthe gut schien, ein Hag pilag ihr).
Zum kurzen Hinweis, wie Form, hier das Umsetzen aus drei
in zwei Hebungen und die kurzen Maasse, eharaeterisirt, folgende
Verse:
Es schleicht ein zehrend Feuer
Durch mein Geheim,
Mein Schatf ist mir nicht treuer
Als diese Pein.
Ich höre die Stunden ziehen
Trübeu Gesichts,
Sie kommen, weilen, fliehen
Und ändern nichts.
(Geibel:
Meiden.)
Wie der Reim durch sein Eintreifen oder Aussetzen bewegt,
aus Julius Grosse's Gedichten:
dafür
In der Mondnacht auf den Lindenbaum
Bin ich gestiegen;
Schauernde Wipfel rauschten leise kaum
Im Windeswiegen.
Der Baum bis hoch zu ihrem Erker blüht,
Sie noch zu schaun entbrannte mein Gemüth.
Kam doch kein Schlaf den heissen Sinnen
Und rings die Vögel aus ihrem Traum
Flogen aufgestört von binnen.
Hier setzt Versmaass, Reihe und Reim unruhig um. Der Reim der
vorletzten Reihe greift noch einmal wieder zurück; wir meinten ihn ver-
klungen, da kehrt er wundersam wieder und stellt sich unruhig zwischen
die beiden letzten Reime.
Wir kommen zur Strophenbildung. Da wo Gedanke sich eben-
massig an Gedanken reiht, wird ebensowenig eine besonders scharfe
Gliederung verlangt, als dort, wo Thatsache an Thatsaehe gestellt wird.
Genug wenn hier für das Singen oder Sagen in passenden Abschnitten
Abschlüsse des Sinnes und Verses zusammen eine strophenähnliehe
Gliederung geben. Dort aber, wo ein Gedanke in seinen einzelnen
Theilen sich als ein Ganzes aufbaut undinnerhalb eines grösseren Ganzen
sich fest zusammen schliesst, mit eigenem Anfang, Steigerung und Ab-
schluss, dort ist auch eine ihm entsprechende Strophenbildung noth-
wendig. Sie kann in der verschiedensten Weise geschehen. Wir sehen
z. B. in der Stanze den Doppelreim die dreifach im Reim sich durch-
Sehlingenden Versreihen schliessen. Bald muss ein dreifacher Reim die