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Die Dichtkunst.
Wer das hört, schweige. Es ist nicht für ihn; es ist ein Geheimniss,
was nur sich selbst die Seele verräth. Ein Tactloser, wer das belauscht
hat und plump eingreifen will!
Und wo die Seele zu einer anderen spricht, da. ist es ja diese, der
sie sich vertyaut.
Der Strauss, den ich gepüücket,
Grüsst dich viel tausehd mal!
Ich hab mich oft gebücket,
Ach wohl ein tausend mal,
Und ihn an's Herz gedrücket
Wie hunderttausend mal!
(Blumengruss von Göthe.)
Und so singt sie auch und fragt Dich nicht, was Du dazu sagst.
Kannst Dich wegwenden, brauchst es nicht zu hören. Oder singe selbst,
wenn Du Lust hast; jeder hat hier ein gleiches Recht. Hier geht Einer
über die Haide und beginnt:
Sah ein Knab' ein Röslcin stehn,
Röslein auf der Haiden,
War so jung und morgenschön,
Lief er schnell es nah zu sehn,
Salfs mit vielen Freuden.
Röslein, Röslein, Röslein roth,
Röslein auf der Haiden.
(Göthe)
Und wenn dort eine Schaar Burschen um den Tisch sitzt und stimmt an:
Hier sind wir versammelt zu löblichem Thun,
Drum Brüderchen! Ergo bibamus.
Die Gläser sie klingen, Gespräche sie ruhn,
Beherziget Ergo bibarnus.
(Göthe)
und Dir's nicht gefällt, so magst Du sauer sehen. Aber die Burschen
denken nicht an Dich, werden sich auch nicht viel um Dich kümmern.
Und hörst Du einen Sänger, der mit seiner Gottheit spricht er
spricht nicht für Dich. Lass ihn und schweige, störe ihn nicht. Be-
greifst Du ihn nicht, Du hast wohl Schuld; miss ihn nicht mit Deinem
Maass:
Wenn der uralte
Heilige Vater
Mit gelassener Hand
Aus rollenden Wolken
Segnende Blitze
Ueber die Erde säft,
Küss ich den letzten
Saum seines Kleides,
Kindliche Schauer
Treu in der Brust. (Göthe.)
Willst Du aber mit ihm rechten, wo er wie ein Titane sich erhebt,
wahrlich Deiner nicht gedenkend, so bist Du thöricht: