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Dichtkunst.
Die
Aufgabe gemacht zu haben scheinen. Ein Roman als Kunstwerk soll
Einheit haben. Einheit der Person giebt noch keine genügende Einheit.
Hundert Geschichten von einem Manne erzählt, geben noch keine ein-
heitliche Erzählung. Alles Aneinanderreihen von Abenteuern, Anec-
doten u. s. w. hat also noch nichts mit Einheit des Kunstwerks zu thun,
welches höhere geistige Zusammenfassung verlangt. Und zwar muss
diese kräftig walten, darf aber nicht sichtbar bloss liegen. Die Idee
muss die Mannigfaltigkeit des Erzählten verbinden wie die Schnur die
Perlenreihe, aber eine zu lose und unterbrochene Reihe, welche jeden
Augenblick den Faden durchscheinen lässt, ist unschön. Nehmen wir
die Odyssee auch hier als Beispiel, so ist des Odysseus Sehnsucht und
sein Bestreben in die Heimath zurückzukehren die treibende Kraft. In
den Abenteuern ist Maass gehalten und ist Mannigfaltigkeit, nicht bloss
Vielheit gegeben, sie zeigen den zur Heimath und Gattin Strebenden im
schönsten Lichte; Gefahren von den Elementen, wilden Völkern so
wenig, wie göttliches Wohlleben und Götterliebe bei der Circe und
Kalypso und menschliche Glückseligkeit bei den Phäaken vermögen ihn
zurückzuhalten. Der Dichter hat sich wohl gehütet, was ihm leicht ge-
worden wäre, noch zwanzig Abenteuer zu erzählen, so dass die Vielheit
oder selbst Mannigfaltigkeit die Einheit überwuchert hätte. Dem Streben
des Odysseus steht das retardirende Schicksal, der Zorn Poseidons
u. s. w. entgegen. Die Mannigfaltigkeit der Lagen wird dadurch herbei-
geführt. ln ähnlicher Weise muss nun jede Einheit durch Mannigfaltig-
keit und Wechsel aufgelöst werden. Hierbei ist zu bemerken, dass man
dies für den Wechsel und die Mannigfaltigkeit einer umfassenden
epischen Dichtung nothwendige Hinausschieben des Ziels nicht der Art
auffassen und übertreiben muss, dass der Held des Romans durchaus
eine retardirende Persönlichkeit sein müsse.
Er kann es sein und der Dichter kann die äusseren Umstände wir-
ken lassen, um ihn fortzuschieben und die durchaus nöthige Bewegung
hervorzubringen. Er kann aber auch durchaus energisch sein und die
Umstände werden dann die nöthige Breite bewirken müssen, um ihn in
den verschiedensten Lebenslagen zu zeigen. Die letztere Behandlung
wird im Allgemeinen wegen ihrer Lebendigkeit vorzuziehen sein; die
erste zeigt viel Neigung für die didactische, also weniger dichterische
Entwicklung und verfällt eher der Breite und Langweiligkeit. Göthe
begann den Wilhelm Meister mit dem Helden als strebender Persönlich-
keit; doch für das Streben, worin er begann, wusste er keinen richtigen
Ausgang; es war zu sehr angelegt auf den Schauspieler und das Schan-
spielleben; statt dass Wilhelm, nachdem er das Bühnenleben durch-
gemacht, energiseh das höhere wirkliche Leben, dessen schönen Schein
der Schauspieler vielfach giebt, activ zu gewinnen sucht, macht ihn der
Dlßhter dann mehr zum passiven Helden, so weit man von einem passi-
veu Helden sprechen kann. Nun fehlt aber der Schwung, die treibende