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Dichtkunst.
Die
der Erbärmlichkeit; sie kann auch heute noch dienen, um aus der Genre-
haftigkeit der Dichtung den Blick einmal wieder auf grosse Phantasie
zu richten. Man klebt heut so viel am Boden oder macht nur kurze
Hüpfe darüber, und kennt dabei Kl0pst0ck's Messias kaum noch. Man
lerne doch wieder von ihm, wie ein Dichter fliegt; seine Fehler braucht
man nicht nachzumachen. Klopstoek wählte, den steifen Parade-
marsch des Alexandriners versehmähend, den Heldengang des Hexa-
meters:
Unterdess eilte der Seraph zum äussersten Schimmer des Himmels
Wie ein Morgen empor. Hier füllen nur Sonnen den Umkreis,
Und gleich einer Hülle, gewebt aus Strahlen des Urlichts,
Zieht sich ihr Glanz um den Himmel herum. Kein dämmernder Erdkreis
Naht sich des Himmels verderhendem Blick. Entfliehend und ferne
Geht die bewölkte Natur vorüber. Da eilen die Erden
Klein, nnmerkbar dahin, wie unter des Wanderers Fusse
Niedriger Staub, vom Gewürme bewohnt, aufwallet und hinsinkt.
Um den Himmel herum sind tausend eröffnete Wege,
Lange nicht auszuschende Weg', umgeben von Sonnen.
(1. Gesang.)
Nennen wir literaturgeschichtlich auch jenes humoristische Epos,
mit welchem Wieland uns seiner Eigenthümlichkeit gemäss beschenkte:
Oberen. Das bedeutendste humoristische Epos unseres Jahrhunderts,
mit den Fehlern des Humors und mit den speeiellen Fehlern seines
grossen Dichters ist der Don Juan Byr0n's. Auf die Leistungen und
Versuche unserer Zeit im Epischen und Lyrisch-Epischen ist hier nicht
einzugehen. Ich nenne kurz Walter Scott, Byron's lyrisch-epische Er-
zählungen; von Neueren nur: G. Kinkel (der sinnige klare Otto der
Schütz), Mosen, Anast. Grün, Roquette, Wilh. Hertz, der mittelalter-
liche Stoffe in meisterhafter Sprache mit tiefstem Verständniss und
heisser Leidenschaftlichkeit neu gedichtet hat, J. Grosse (das herrliche
Mädchen von Capri u. a.) Paul Heyse (die Braut von Cypern im holden
Reimklang der Stanze u. Geibel, Lenau, Bodenstedt, Hamerling,
Jordan und Hermann Lingg, dessen Völkerwanderung den grossartigsten
Erscheinungen jetziger Dichtung angehört.
Wir Deutschen haben jetzt Geschichte gemacht. Verdienen wir
weiter das Glück durch Kraft und Verständigkeit, so können wir getrost
sein, dass unsere epische Dichtung, auch des hohen Stiles, den neuen
Geist verspüren wird. Seit vielen, vielen Jahrhunderten fehlte uns der
grosse Hintergrund oder ein Standort, der ruhige Aussicht in schöne
Ferne gewährte. Unsere nationale Epik hatte nicht den Punkt, um zu
stehen und den Hebel anzusetzen. Mit der kleinstaatlichen Ausschliess-
lichkeit, die allein sich bot, war dem ganzen Volk nicht genützt. Jetzt
werden wir eine Nation; das nationale Epos wird kommen, welches
auch geschichtliches Volksleben nutzen kann und sich nicht wie Göthe in
Hermann und Dorothea nothgedrungen auf das enge Bürgerleben be-