Epos.
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Nationen, wohin er verschlagen wird, das Musterbild, der Erste ist.
Nicht der Mann, der nur Krieger ist, nicht etwa. Menelaos auf seinen
Irrfahrten, wird gewählt, sondern die Personitication des griechischen
Volkscharacters nach Kühnheit, aber vor Allem List, nach Stärke aber
auch Verschlagenheit, Feinheit Odysseus giebt den Helden, ein Bild
des Stolzes, der Freude des Volkes bis herab zur Untugend des Volkes
in Lug- und Trugfreude. (So sehen wir bei den Deutschen Zornwuth,
Umbarmherzigkeit und Derbheit durch die Dichtung gepriesen; je kräf-
tiger, je lieber wohl der Masse.) '
Mit der Einheit der Heimkehr des Odysseus rundet sich der Stoff.
Die Argonautenfahrt blieb in der Vielheit gleich wichtiger Helden episch
stecken; es fand sich kein Dichter, der sie so zu einen vermochte,
wie Homer in der Ilias gethan. Wie voll und freudig der Grieche in
seinem Leben stand, das kann man nirgends schöner als in der Odyssee
sehen; von der Insel der Kalypso und aus ihren göttlichen Armenähin-
weg in das heimische Ithakal Nirgends kann man den Griechen nach
verschiedenen Oharacterseiten so gut kennen lernen. Ilias und Odyssee
sind ewige Muster für das Epos.
Das germanische Volk hatte das Genie und das Glück, seine
epischen Volksdichtungen ähnlich, wenn auch nicht so vollkommen, zum
Kunstepos zu gestalten. Zum Kunstepos! Nicht zum künstlichen Epos,
welches streng davon zu scheiden ist! Oder, wenn man Kunstepos
doch missverstehen sollte, zum künstlerischen Volksepos.
Wir verweisen hier nur auf die beiden grossen Dichtungen, welche
mit- der Iliade und Odyssee so unzählige Male verglichen sind: auf
Nibelungen und Gudrun, das Kampf- und das Meerlied.
Für das Nibelungenlied lag der reichste Stoff vor, Manches aus"
Urzeiten herüberklingend, Vieles seit Jahrhunderten gesungen und ge-
sagt. Mythus und Sage Jiiessen darin vielfach in einander; der Mythus
ist zur Sage, die Sage zur Mythe geworden. So in Siegfried (Baldur?'),
Hagen von Tronje (Anklänge an Hödur?), Dietrich von Bern (Sage mit
Mythus von Odin?), Brunhild u. s. w. Mythus und Göttersage ver-
blassten in dieser Dichtung allerdings unter dem Einfluss des Christen-
thums; der deutsche Dichter hatte es nicht so gut, wie der griechische,
welcher in freier Phantasienschöne einer heiteren, aufgeklärten Götter-
anschauung sich bewegte und daraus neue, schönere Götterideale seinem
Volke schaffte; der deutsche Dichter hatte die Kluft zwischen altem
heidnischen und neuem christlichen Glauben zu überbrücken. Gross-
artige Momente war er gezwungen wegzulassen oder abzuschwächen,
welche die nordische Ueberlieferung uns glücklicher Weise bewahrt hat.
Im ersten Theil der Nibelungen, wo in Siegfried, dem Nibelungenhort,
Brunhild der Mythus die Grundlage abgiebt, hat der Dichter aus dem
angegebenen Grunde das Gedicht nicht so aus einem Guss zu geben und
die widerstreitenden Elemente harmonisch zu bezwingen vermocht,