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Die Dichtkunst.
In der Odyssee ist zum Helden in dem Culturbilde der erfindnngs-
reiche königliche Odysseus gewählt. Er knüpft das Epos an den troja-
nischen Krieg, welcher überall den Hintergrund abgiebt und uns in
seine wunderbare Fülle hineinlockt. Das Epos darf sich nicht vor einer
grauen Wand abrollen. Darum hat z. B. auch Göthe in seinem Her-
mann und Dorothea eine geschichtlich bedeutende Epoche, freilich nicht
erquicklicher Art für uns, zum Hintergrunde genommen. Eine für uns
frohere Kriegszeit würde das herrliche Gedicht dem Volke zusagendei-
machen. Homer denn wir übergehen die Streitigkeiten über den
Dichter der Iliade und Odyssee führt uns in der Odyssee durch das
Meer von Troja, Phönikien, Aegypten, Kreta bis zu den Kimmeriern,
dem Okeanos und dem Reich der Schatten. Alle Wunder der Phantasie
werden vorgeführt. Wir sehen fremde Völke1', Ungeheuer, Riesenge-
schlechter, dann Wieder Göttinnen auf ihren Eilanden, glückselige, ewig
heitere Menschen. Neben dem Wunderbaren aber die treueste Realität;
dort Kalypso, hier die trauernde Gattin, dort der Kyklop, hier die herr-
liche Idylle des Sauhirten Eumäos, dort Scheria und Alkinoos, hier
Laertes auf dem Felde, dort die Phäaken und Nausikaa, hier die Freier
im Palast, die Hab und Gut verzehren. Aus dem engen Kreise von
Ithaka und nach Wundergeschichten fahren wir dann mit Telemach hin-
über auf das Festland zu Nestor und zu Menelaos und Helena. In wel-
eher Klarheit, Kraft und Schönheit Alles geschieht, wer Wollte dies schil-
dern! Das Epos schliesst nach dem furchtbaren Blutbade unter den
Freiern kurz; es wirdhier gleichsam über's Knie gebrochen. Abgesehen
davon, dass er seinen Inhalt erschöpft hatte, hätte der Dichter hier nur
noch durch Herbeiziehung von Freunden des Odyssens wirken können,
z. B. der Söhne des Nestor, des Menelaos. Auf Ithaka hatte der Tod zu
furchtbare Ernte gehalten.
Gegen das reine Heldenepos der Iliade zeigt uns die Odyssee das
grosse Oulturepos (unserem Roman entsprechender). Die Ansschliess-
lichkeit des Heldenlebens und Kampfes ist aufgehoben. Das ganze Volk
wird geschildert vom König bis zum Bettler. Das Volk verherrlicht sich,
nach seinen Neigungen und Tugenden, auch ihm lieben Schwächen. Die
einzelne Sage schon ist vorher mehr und mehr in's Menschliche gerückt
und der Anschauung und den Anforderungen der je späteren Zeit an-
gepasst. Der Dichter giebt diesen Umwandlungen Einheit und Vollen-
dung. Ein Seevolk mag von seinen Fahrten hören, von wunderbaren
Inseln, Abenteuern, Kannibalen, Gefechten, Schißbrüchen, wunderbaren
Rettungen. Der Kaufmann, der durch eine Katze bei einem König
fremder Völker grosse Reichthümer gewinnt und Robinson Crusoe
es ist dieselbe Phantasie wie in der Odyssee. Nur dass hier ein stolzes
schönheitsbedürftiges Volk aus der Sage sich einen königlichen Helden
wählt, den es zum Mittelpunkte macht, der in aller Noth, allen Wider-
wärtigkeiten hervorleuchtet durch männliche Kraft, der bei allen