Epos.
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noch älteren Zeiten wahrscheinlich (Kinder singen, wo sie sagen, wie
jede Kindersehule lehrt; auch mancher Gemeindevortrag in ländlichen
Kirchen kann hier Analogien geben), mussten die Abschnitte noch kürzer
sein; jetzt Wo gehobener Vortrag mehr und mehr den eigentlichen Sang
ablöst, können die einzelnen Stücke länger sein. Ein solcher Theil
musste aber so viel wie möglich in sich eine Einheit bilden, da er ge-
sondert vorgetragen wurde;
Ein gewaltiger Stoff liegt vor. Viele Heldenthaten sind zu melden.
Zur Pliuheit wählt Homer einen Haupthelden, aber darüber will er die
anderen nicht missen. Die Selbständigkeit der Theile innerhalb des
grossen Ganzen reizt besonders, die Mannigfaltigkeit nicht zu sehr unter
die Einheit zu zwingen oder sich zu sehr auf Eines zu beschränken. Um
die Thaten nicht lose an den Faden des Kampfes um Troja zu reihen,
dann um eine Steigerung der Heldenthaten möglich zu machen denn
i-Xchilleus von Anfang an in gleicher Weise kämpfend würde für ein so
langes Gedicht ermüdend führt er Achilleus ein, aber nur, um ihn
zürnend in sein Zelt kehren zu lassen. Die Helden der Griechen werden
im Kampf vorgeführt. Held um Held wird behandelt; Achilleus Bedeu-
tung aber bleibt immer einheitlich wirkend, indem wir sehen, wie doch
trotz Agamemnon und Diomedes, Ajas, Odysseus u. s. w. Alles ohne
den im Zelte Zürnenden rückwärts geht. So steigert sich das Ganze im
Herüber- und Hinüberwogen bis zu dem gewaltigen Kampf an den
Schiffen, Patroklos Hülfe und Tod, Achilles Erscheinen auf dem Kampf-
platz der Götterschlacht und Hectors Tod. ,
Mit Hectors Fall ist ein Abschluss. Mit ihm ist Troja dahin: wir
sehen den Fall des heiligen Iliou voraus. Als Abgesang des Ganzen,
zur Beruhigung nach den furchtbaren Leidenschaften und dem schreck-
lichen Aufruhr, kommt nun die Leichenfeier des Patroklos, wo nach
Mord und Kampfeswüthen Freude, Friede und Schmuck herrscht, alles
Schöne des schönen Spiels, das der Grieche nicht entbehren mochte.
Und zum Schluss Priamus bei Achill, der Vater des todten Feindes
bei dem nun auch von sanfterer Seite geschilderten, edelmüthigen
Helden.
Die Sprache, die Oharacterschilderung, die ganze Behandlung
dieses Epos ist von jeher ein Muster gewesen. Es ist niemals so Grosses
in so einfacher Sprache geschildert; nur an einigen Stellen sind die.
übrigens stets treiflichen Gleichnisse zu gehäuft. Die Personen, Dinge
und Ereignisse treten so klar hervor, dass man glaubt, sie mit Händen
greifen zu können; der Künstler soll am Homer studiren, wie er einen
Character zu schildern hat, indem er ihn aus seinen Handlungen, Reden
und aus den Beurtheiluugen Anderer lebendig vor Augen stellt. Die
Grösse, Erhabenheit, Schönheit, welche in der Iliade waltet, alle ihre
Zauber, der Einiiuss auf Religion, auf das ganze Volkslebeu sind hier
natürlich nicht auseinander zu legen.