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Die
Dichtkunst.
Sage behandelte Erklärung einer Erscheinung, das erste speculative
Bemühen, welches aber statt durch den Verstand durch die Phantasie
ausgeübt und zur Lösung gebracht werden soll. S0 lange die phan-
tastische Lösung geglaubt und für wahr oder wahrscheinlich gehalten
wird, ist der Mythus rein. Sobald aber die Denkthätigkeit die Phantasie
zurückdrängt und dieselbe nur als Ausdruck benutzt, weil die Sprache
noch nicht das Begriffliche klar oder auch nur annähernd genügend aus-
zudrücken vermag, tritt die bewusste symbolische Darstellung ein,
welche zuletzt zur reinen Allegorie erkaltet. Was dem Einen aber nur
symbolisch ist und von ihm vielleicht nur symbolisch ausgedrückt war,
ist für den Andern oft noch lange echter Mythus. Jede Götterlehre
giebt Beispiele. Das Gewitter wird z. B. erklärt. Es ist eine Thätig-
keit; es ist ein Gott, der es bewirkt, welcher blitzt, donnert, mit dem
Blitze triift. Der Gott und das Wetter werden identificirt. Zeus blitzt,
Thor wirft den Hammer. Im Winter ist kein Gewitter. Wo ist Thor
in der Zeit? Wo ist der Hammer? Die Phantasie erklärt durch einen
Mythus. Später wird das ganze Gewitter absichtsvoll umgedichtet in
Thatigkeiten des Donnergottes und schliesslich wird Thor und werden
Riesen und Riesenjnngfrauen u. s. W. zum Wetter, befruchtenden Ge-
witterregen, zu Steinöden des Gebirgs und schädlichen Naturereignissen,
Wolkenbrüchen im Gebirg u. dergl. Der dichterische, schöne Mythus
wird didactisch behandelt oder absichtlich allegorisch.
Häufig wird nun Sage und Mythus in einander übergehen. Ein
Mythus wird als Sage behandelt; die Sage wird mythisch ausgesponnen.
Dort wo der Mythus weichen muss und immer mehr zurückgedrängt
wird, da püegt er sich zu verkleinern und sich gleichsam den Schichten
anzupassen, bei denen er zuletzt seine einzige Stätte noch zu finden
pflegt, bei den Kindern und diesen ähnlichen Gemiithern. Er wird zum
Mahrchen. So bei unseren echten nordischen Mährchen. Eine beson-
dere Art entsteht da, wo die Phantasie des Volks das Wunderbare nicht
fallen lassen mag und darin freudig arbeitet, wie im orientalischen
Mahrchen, auch in den mahrchenhaften Erzählungen des Mittelalters
und in ganz bewusster Weise auch in der Neuzeit. (Tausend und eine
Nacht ist z. B. ein allgemeiner rlusrlrnck der orientalischen Volkspl1anta-
sie; dagegen sind etwa Mnsäus Volksmährchen durchaus subjectiv).
In die ältesten Zeiten hinauf reicht auch bei Jägervölkern die
Thiersage; in ihrer Weise zum Theil die Eigenthümlichkeiten der
Thiere erklärend, ihr Gebahren erzählend. Man braucht nur heute noch
manchen Jäger zu hören oder auch Hirt und Knecht, um das Unter-
schieben des Menschlichen nach Absicht, Erwägung, Gemüthsart u. s. w.
bei der Betrachtung des Thiers im Einzelnen so stark zu gewahren, wie
in ältesten Zeiten. Die furchtbaren und die listigen Thiere boten sich
am besten dar. In der nordischen Waldeinsamkeit nahm das andere
Gestalt an, als unter Griechenlands Himmel. Hier war ein Löwe, ein