Volltext: Populäre Aesthetik

Epos. 
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für die Erinnerung geben. Das bedeutet das Wort: Poesie ist die 
älteste Sprache. 
Solange die Erzählung mündlich übertragen wird im Volke, stösst 
dieses alles Unvolksmässige, Nicht-Interessirende heraus; der allge- 
meine Ideenkreis darf nicht oder kann nicht  denn er würde bald, wo 
er sich versteigen wollte, herabgedrückt werden auf ein Verhältniss- 
mässiges Mittelmaass  überschritten werden. Dadurch, dass Unbe- 
deutenderes übergangen wird, dass bei reger Phantasie die denkende 
Prüfung und Verknüpfung noch kaum sich regt  wenigstens in der 
Menge nicht  dass diese Phantasie, wo sie allein waltet, das Merk- 
würdige, Auffallige gern in's Merkwürdigste, in's Wunderbare steigert, 
entwickelt sich die Eigenthümlichkeit jeder Sagenbildung. Geschehenes, 
d. h. Geschichte, soll berichtet werden; aber Ursache und Wirkung wird 
noch nicht recht erkannt; dadurch kommen falsche Bezüge; manches 
wirklich Wichtige wird übergangen; seltsame Verknüpfung und Zusam- 
menstellung ist die Folge; das Wunderbare erscheint noch natürlich, 
wie überall, wo der Verstand nicht nachforsehend den wahren Zusam- 
menhang entdeckt, und das Wunderbare fehlt bei bedeutenden Ereig- 
nissen eigentlich nie; die poetische Belebung ist hier noch unbewusst 
nicht eine dichterische Fiction im engeren Sinne. So vom Grössten bis 
zum Kleinsten, vom Gotte bis zum Geräth; ein trefflich geschmiedetes 
Sclnvert z. B. ist etwas Besonderes, Eigenartiges; es wird als lebendig, 
als ein Eigenwcsen betrachtet. 
Die Sage behandelt somit geschichtlichen Stoff, der in Personen, 
Helden concentrirt wird, in volksmässig dichterischer YVeise. Es ist 
eine aneinander gereihte, oft freilich sehr lose oder gewaltsam verbun- 
dene Kette von Begebenheiten, nicht selten voll Dunkelheit, voll Wun- 
derbarem, auch Uebernatürlichem; durchaus dem Volksgeist gerecht, 
höchster Ausdruck seiner Eigenthümlichkeit in Denken und Dichten. 
Ungebrochener Natursinn nach Einfachheit, kindlichem Wesen und wie- 
der Harte, Trotz und wohl Grausamkeit und Rücksichtslosigkeit solcher 
Oulturstufe waltet in den Charakteren. Die Sage bildet sich durch Sagen 
aus oder bildet sich um, bis sie völlig mundgerecht ist; sie hat zum 
Dichter das Volk und die Zeit.  
Von Urbeginn an trifft Vieles des Menschen Geist, was auch den 
unausgebildeten reizt, nach einer Erklärung zu suchen. Warum dies 
oder das? Warum dieser Zufall? dieses Glück? jenes Unglück? Wo- 
her kommt dieses? Warum wirkt jenes? Die erste Naturphilosophie 
und Religion in all ihren Sonderbarkeiten entwickelt sich: Götterlehre, 
Gedanken über die Entstehung der Dinge, Anschauung der auffälligen 
Naturereignisse u. s. w. Die Vorstellungen darüber werden, wenn sie 
zum Ausdruck kommen, zum Mythus; denn noch kann Nichts rein be- 
griiflich erfasst und mitgetheilt werden; es muss sich Alles zu (poe- 
tischen) Vorstellungen gestalten. Der Mythus ist eine nach Art der
	        
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