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Die Dichtkunst.
und wie diese wieder eine gleiche Einwirkung auf jene üben. Dies ge-
schieht in der werdenden Handlung. Nicht mehr mit Empfindungen,
nicht mehr mit für sich stehenden Thatsachen haben wir es nun zu thun,
sondern unser Hauptvorwurf wird jetzt der menschliche Geist in der
Thätigkeit, im Kampf mit der Aussenwelt; der Character und die wer-
dende That ist es, wodurch die Vereinigung hergestellt ist.
Die Dichtkunst, diese Gebiete der äussern, der innern Welt und
ihrer Durchdringung ergreifend, theilt sich danach in Lyrik, Epik und
Drama. Die Auffassung der äusseren Welt geht wie beim Kind so bei
den jugendlichen Völkern voran; es ist also mit ihr die Einzelbetrach-
tung zu beginnen.
Zuvor gilt es noch einmal an das zu erinnern, was über die Kunst
im Allgemeinen gesagt worden. Welchen Gegenstand der Dichter er-
greife, die allgemeinen Anforderungen gelten ihm. Eine bedeutende,
fesselnde Idee ist nothwentlig; in schöner Form ist sie darzustellen.
Und zwar in einer, die Phantasie erfüllenden Weise. Dazu darf der
Dichter nicht erst die Vorstellungen zusammensetzen, welche er in uns
zu erregen beabsichtigt, sondern jede derselben muss klar, bestimmt,
lebendig sein. Er wird diese einzelnen bestimmten Vorstellungen na-
türlich zu einer höheren, jene einigenden zusammeniliessen lassen; aber
ein Hineinarbeiten in lehrhafter Weise, z. B. durch ein Bestimmen der
Begriffe, durch eine ausführliche Angabe dessen, was wir etwa nicht.
unter einer Vorstellung zu verstehen haben, kurz alles lehrhafte Auf-
lösen, Untersuchen und Prüfen in der Dichtung ist untersagt. Klare
Bilder gilt es der Phantasie zu geben; wie gross die Vorarbeiten ge-
wesen sein mögen, sie gehören nicht in die Kunst. Eine volle Leben-
digkeit ist zu schaffen. Wenn dabei mit aller idealen Kraft stets das
Schönste getroffen, alles Unnöthige, Zufallige hinweggeschmolzen wird,
wenn diese Vorstellungen ihren richtigen, der Sprache völlig entspre-
chenden, schönsten Ausdruck finden, wenn die Anforderungen jeder
Kunst: Harmonie zwischen Inhalt und Erscheinung, Ganzheit, Glie-
derung u. s. w. erfüllt sind, dann stehen wir im Gebiete der Dichtung.
Das
Epoa
Ueberall ist Handlung und Gestalt.
(W. v. Humboldt: Henn. u. DorotheaJ
Das Erfassen der Aussenwelt durch die Gedanken und deren
Wiedergabe durch die Sprache giebt die erste und einfachste Form der
Dichtung, welche sich im Anfang überhaupt vom sprachlichen Aus-
druck schwer trennen lässt.
Wir wollen zunächst einen Blick auf die ersten Erzählungen, z. B.
des Kindes oder der kindlichen Völker werfen.