Stellung
der
andern Künsten.
den
Dichtkunst zu
445
der geistigen Anschauung ein genaues Bild einer zusammengesetzten
Körperlichkeit zu geben. Eine unregelmässige Fläche setzt sich viel-
leicht aus tausend verschiedenen Verhältnissen zusammen; diese über-
sehe ich mit dem Blicke; alle oder sehr viele liegen gleichzeitig vor den
Augen; die Sprache dagegen ist transitorisch; sie kann nur das Eine
nach dem Andern schildern; es bedarf einer grossen Anstrengung, dieses
Nacheinander zusammenzufassen; das Gedächtniss wird belastet und
bald überladen; das geistige Bild wird verworren oder bleibt doch un-
bestimmt. Das einzige Mittel, welches die Sprache zur genaueren Be-
stimmung hat, ist die Uebertragung der räumlichen Verhältnisse in
Zahlen, um danach ein räumliches Abbild entwerfen zu können. Dies
aber fällt aus der Phantasie und wird dann wieder zur bildlichen An-
schauung der bildenden Kunst. Auch die farbigen Erscheinungen in
ihren unzähligen Verschiedenheiten lassen sich nur im Allgemeinen
durch die Sprache bezeichnen und vor die Phantasie rufen. Die bil-
dcnde Kunst hat darin ihr Reich: Architectur, Plastik, Malerei; die
Dichtung, die Sprache überhaupt kann hier nicht wetteifern. Keine
Sprache z. B. kann, auch wenn sie tausend Einzelheiten geben wollte,
das Gesicht eines unbekannten Menschen (der nicht durch besondere
ungewöhnliche Merkmale als auffällig zu charakterisiren ist) so an-
schaulich machen, wie ein Gemälde; jene wird immer nur ein allgemeines
Bild geben können.
Das Nacheinander der Sprache im Gegensatz zum Miteinander der
bildenden Kunst und dessen Bedeutung möge man sich daran vergegen-
wartigen, dass man auch beim Gemälde nur ein Nacheinander stattfinden
lässt, dass der Maler uns z. B. nur die Haare zeigt, diese dann verdeckt
und unserem Gedächtniss allein überlässt, dann die Stirn in derselben
Weise, dann Nase, Augen, Wangen u. s. w. Wie viel mangelhafter wird
schon dadurch die Anschauung werden.
Es folgt daraus, dass die Dichtung sich hüten soll, in Bezug auf
äussere Formen es der bildenden Kunst an Anschaulichkeit gleichthun
zu wollen. Sie kann nicht so bilden wie die Natur, die Architectur und
die Plastik; sie kann nicht so malen wie die Malerei. Die Dichtung,
welche dies verkennt, welclte z. B. malerisch genau sein will, wird statt
eines klaren, schönen, richtigen Phantasiebildes nur eine abgeblasste
und immer undeutliche Zusammenstoppelung geben. Wie die Dichtung
ihrer Eigenthümlichkeit gemäss richtig verfährt, werden wir sehen.
(Lessing: Laokoon.)
Aehnlich steht sie zur Tonkunst. Der bestimmte Gedanke, wie er
in der Sprache gefasst ist, giebt nicht die Empfindung selbst, sondern
ihren Begriff. Durch das Tönende der Sprache an sich hängt die
gpraehe allerdings mit demT-Pongebiet zusammen und Modulation der
Stimme, ihre Klangfarbe, Vibriren u. s. w. können die Sprache gleich-
sam zum Ausdruck eines einfachen Instrumentes machen; doch hat