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Die Tonkunst.
Rein-Geistige ist also ausgeschlossen. „Der Verstand ist a priori ge-
setzgebend für die Natur als Object der Sinne, zu einem theoretischen
Erkenntniss derselben in einer möglichen Erfahrung," mit diesen Wor-
ten Kantls möchte wohl kein Compönist etwas anfangen können, es sei
denn, dass er sein Verstandniss durch klare Töne, seine Unklarheit über
das Gesagte durch ein trostloses Tondurcheinander in der Begleitung
kundgeben wollte. Im ganzen Satz kommt kein musikfähiges Wort vor.
Die Musik verlangt Alfect, Gefühlserregung. Sobald ich nicht bloss em-
pfinde, sobald ich denken muss, also z. B. bei jeder Begriffsbildung,
jedem Witz u. dgL, sobald ist die Musik ungehörig. Natürlich ist Em-
pfindung und Gedanke nicht immer leicht zu trennen, ja lasst sich über-
haupt keine bestimmte Grenze dafür finden. Den Unterschied allgemeiner
Empündung und einerBegriffsbildung möge man sich etwa an folgendem
Beispiel klar machen. „O mein Vater" wird sicher ein Jeder leicht sich
musikalisch denken können, wenn er Liebe, Flehen der Verzeihung,
Trauer u. dgl. im Spiel denkt. Aber: „Vater wird der Mann genannt,
welcher ein Kind gezeugt hat", das in Musik gesetzt, kann nur etwas
Unsinniges oder Komisches geben.
Jede aus Gefühlsstimmtingen hervorgegangene Rede lässt sich
musikalisch behandeln. Leicht ist aber zu ersehen, warum der Ton-
künstler sich so gerne der Dichtung zuwenden wird. In ihr, welche
ebenfalls keine Abstraction duldet, sondernauf der sinnlichen Leben-
digkeit beruht, ist eine gesteigerte, seelische Erregtheit wirksam. Dann
treffen manche künstlerische Ordnungen der Tonkunst und Dichtkunst
zusammen. Eigentliche Gefühlsdichtung ist an sich schon musikalisch,
ist Musik, verlangt Musik, weil sie aus allgemeinen Gemüthszuständen
gleichsam tönend aufwallt und den poetischen Ausdruck erst während
dieses inneren, oft gänzlich unklaren Gefühlswalleus findet, von dem
der Lyriker nicht selten am wenigsten Rechenschaft geben kann.
In verschiedener Weise kann die Tonkunst an die Rede heran-
treten.
Am einfachsten steigert sich die Rede zum Gesang. Das Gefühls-
moment der Worte schlagt durch und hebt das Ganze aus der unbe-
stimmten Musik, darin jede Rede erklingt, in die bestimmte, reine, ge-
messene, also der Kunst entsprechende. Eine musikalisch-dramatische
Bewegtheit der Rede tritt ein. Oder die Sprache wird nicht musikalisch
oder besser gesagt nicht tonkunstmässig gehoben. Sie steigert sich
nicht über den Ton des Sprechens, innerhalb dieser Grenze aber mit
der höchsten Kraft der Empfindung durch Betonung, Klangfarbe u. s. w.
behandelt. Aber ein Instrument tritt mit seinen Klängen hinzu. Accorde
tragen die Stimmung der Redenden; dumpfere oder hellere, langsamere
oder schnellere Klänge, Wohlklang oder auch ein schneidender Miss-
klang dazwischen geben die einfache Begleitung, in ihrer Allgemeinheit
durch ihre Verbindung mit der Rede allgemein verstandig. Wort und