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Die Tonkunst.
schlag die Töne alle bereit liegen, ermöglicht diese Ausbildung der
IIarmonie. Als ein Mangel erscheint dabei nur die Uebereinstimmung
in der Klangfarbe, die einer wirklich polyphonen Behandlung entgegen-
steht. Dadurch, dass alle Töne des Klaviers dem Spieler zugerichtet
sind und nur seines Klopfens bedürfen, um lebendig zu werden, wird
das Instrument sehr bequem, aber auch der echten Kunstbildung leicht
gefährlich; Jeder meint spielen zu können, der seine reinen Töne her-
vcrklopfen kann. Nur zu leicht wird es dadurch Fingerarbeit und führt
zur musikalischen Flaehheit. Uebung im Notenlesen und Uebung der
Finger, ein gefühlloses Notenspielen gilt oft für Kunst. Künstlerisches
Durchdringen ist schwierig; sein Mangel nur dem Kenner bemerkbar.
Die Vorzüge des Klaviers, dass es allgemeine musikalische Bildung
verbreitet, dass es durch Uebertragung doch auch ein vielstimmiges
Tonwerk zur Anschauung bringen kann u. s. w. sind so bekannt, dass
ich sie Ilicht näher auseinanderzusetzen brauche. Carriere vergleicht
es trefflich mit dem Kupferstich gegenüber dem Farbengemälde reicher
zusammengesetzter Instrumentalmusik. Man könnte es auch den Blei-
und Tuschkasten nennen, wenn man die übrigen Instrumente mit den
Farben der Palette vergleichen wollte. Es dient trefflich zum Entwerfen
des musikalischen Oartons und zur Erprobung desselben hinsichtlich der
Licht- und Schattenwirkung, der in den Farben dann zur Ausführung
kommt. Bekanntlich muss das geduldige Klavier aber auch ebenso den
Sünden der Dilettanten dienen, wie die Bleifeder und die einst so beliebte
Tusche es müssen zu all' den Skizzen, Nachzeichnungen, selbständigen
Versuchen u. dgl.
Durch die Instrumente wird das Tonleben der Natur in gewisser
Weise dienstbar gemacht und gezwungen sich zu zeigen. Der schöne
Klang wird als Material benutzt; die Ordnung und die Idee giebt der
Künstler. Es versteht sich, dass er sich der Gesetzmässigkeit jedes
Instrumentes zu fügen hat; so wenig das Material beim Bauen Willkür
verträgt, so wenig und noch weniger hier; wie dort der Künstler Wesen
und Erscheinung in seiner Harmonie zu zeigen hat, so hat er auch der
Eigenartigkeit des von ihm benutzten Tonmatcrials Rechnung zu tragen.
Unwahrheit kommt heraus, wo der Tondichter unbekümmert um den
Stil, den jedes Instrument in sich trägt, mit ihm willkürlich verfahrt,
Unwahrheit oder Abgeschmacktheit; ebenso, wenn der spielende Künstler
es nicht stilgemäss behandelt. Ein Instrument zu den Leistungen eines
andern zwingen, ist ein Kunststück, hat aber selten etwas mit der Kunst
zu thun.
Wir hätten eigentlich, da wir von dem Tonmaterial sprachen, ein
älteres 'I'onreich zuerst anführen sollen, das der menschlichen Stimme.
Die Unterschiede der Klangfarbe nach Geschlecht und Alte1' wurden
schon angeführt. Das weibliche und das unentwickelte männliche Ge-
schlecht singt Sopran (Discant) oder Alt. Tenor und Bass ist die