Volltext: Populäre Aesthetik

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Die Malerei. 
lichem Geiste begabt, und vom Boden empor gezogen. Das heisst 
malerisch seinen Gegenstand erfassen und bewältigen. 
Wer nun aber nicht die mächtige künstlerische Kraft hat, jeden 
Stoff unbekümmert um die Ueberlieferung der Poesie oder sonstiger 
lliittheilung nach dem besten Gesetze seiner Kunst umzuarbeiten und 
selbständig zu gestalten, dem möchten wir den Rath geben, so nüchtern 
derselbe auch klingt, seinen Stoff nicht aus den bis in's Einzelne aus- 
geführten Werken anderer Künste zu wählen. Ein Gemälde nach einem 
Gedichte, in dem Gedanke an Gedanke fest und schön gebunden ist, 
und welches seinen Gegenstand vollständig verarbeitet, ist sclnvierig. 
Nur zu leicht wird der Maler sich verleiten lassen, der dichterischen 
Beeinflussung nachzugehen und die poetischen Schönheiten, die ihm 
so sehr gefallen, wiedergeben zu wollen, statt die malerischen Gesichts- 
punkte hervorzuheben. Die speciellen Schönheiten der Dichtung aber, 
das Gedankenhafte, die Entwickelung in der Zeit, das Steigern, alles 
das kann der Maler nicht Wiedergeben. Versucht er das, will er 
gleichsam Zeile für Zeile die Poesie im Bilde erkennen lassen, so schatft 
er ein Werk, dass einer Uebersetzung und keiner besonders guten zu 
vergleichen ist. Ein an sich völlig nichtssagender Umstand kommt 
gewöhnlich hinzu, den Maler zu missleiten. Das Publikum verwechselt 
meistens ein solches Gemälde mit einer Illustration; es will Alles 
wiederfinden, was es im Gedicht gefunden hat und wird wohl sehr 
unwillig, wenn dies nicht der Fall ist. Statt sich nun an die Unkennt- 
niss Anderer nicht zu kehren und ihnen im Gegentheil das bessere 
Wissen zu zeigen und sie zu belehren, wagt der Künstler häufig nicht, 
gegen den Strom zu schwimmen, sondern treibt mit ihm hinunter, 
während sein Weg hinaufginge. Wo er in dieser Weise nicht gegen 
den Strom schwimmen kann, soll er nicht in denselben springen, um 
von seinen wahren Zielen nicht abgetrieben zu werden. Es geht hier 
dem Maler noch schlimmer als dem Musiker, welcher einen Text com- 
ponirt. Diesem vermag man doch nicht in der Art zu folgen, weil Text 
und Musik, Gedanke und Klang niemals ganz genau zu vergleichen 
sind; dann gehen auch beide Künste in gleicher Weise im Nacheinander 
der Zeit vor sich. Aber schon der Musiker wählt nicht das ineinander- 
gekettete Gedankengedicht; er kann z. B. das Sonett selten, ein gutes 
Sonett eigentlich gar nicht gebrauchen, sondern er nimmt am liebsten 
dasjenige Lied, was gleichsam nur in Absätzen spricht und die einzelnen 
Gedankenstufen auslässt. Der Künstler bedarf der Freiheit; bindet ihn 
eine Nebenkunst, sie mag so schön sein, wie sie will, so kann er kein 
Kunstwerk schaffen. Es erklärt sich ganz in gleicher Weise, warum 
eine alte, einfache, zusammenhangslos erscheinende Chronik oder eine 
noch unbehülfliche Novelle meistens ein besseres Stotfbueh für den 
Dramatiker ist, als die getreueste, ausführlichste Geschichtsschreibung 
oder ein vielbändiger Roman. So ist z. B. nicht blos wegen der Fülle
	        
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