Auffassung.
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Maria mit dem Christuskinde, wie sie gang und gäbe in der kirchlichen
Auffassung dasteht, hat für Rafael nur so viel zu bedeuten, als ihm
gut dünkt. "Seine Madonna della Sedia. oder die Madonna des Herzogs
von Alba (Fig. 41) sehe man an. Welch ein Bild! Aber wie weit ent-
fernt von der Himmelskönigin, wie sie sonst durchgängig aufgefasst
wurde und aufgefasst wird. Oder betrachten wir die Erschaffung des
Menschen von Michelangelo (Fig. 42). In irdischer Schwere am Boden
liegend, noch zu matt an Geist und Körper, um hell zu denken und
sich kraftvoll aufrichten zu können, so ist der erste Mensch gebildet,
in herrlicher, malerischer Weise die Worte darstellend: Und Gott
machte den Menschen aus einem Erdenkloss. Nun folgt: Und er bliess
ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase. Aber statt dass Michel-
angelo versuchte, dieses wörtlich darzustellen, bildet er Gott in der
Luft schwebend am Rande des Berges, auf welchem Adam liegt. Ein
Wehen des Geistes glaubt man zu gewahren im Wehen des Windes,
-darin Gott schwebt. Er streckt die Rechte gegen den Menschen aus,
der ihm matt, sehnsüchtig verlangend die Linke hinhält, damit Gott
sie fasse und ihn aufriehte; wir glauben zu sehen, Wie schon jetzt, wo
der Finger Gottes sie noch nicht berührt, der lebendige Funke übe1'-
fahrt, wie der Mensch als lebendige Seele sich erheben muss, mit gött-